20.07.2015 – Wenn Gutverdienen nicht reicht oder: Das Schnauze-halten-Dilemma

An der Überschrift habe ich mindestens 20 Sekunden gefeilt. Ich war mal wieder in Berlin, Stadt der Gegensätze blabla… Stimmt aber irgendwie schon, in Friedrichshain am Warschauer Bahnhof obdachlose jugendliche Trinker, die aus Verzweiflung und Wut schon mal eine leere Wodkaflasche in den Straßenverkehr schmeißen, am Volkspark Friedrichshain die gated community Schweizer Garten.
gated community friedrichshain schweizer garten
Gated community in Friedrichshain – Wer über den Zaun klettert, wird erschossen. Dazu passte eine Meldung in einer Berliner Tageszeitung über einen Kunstlehrer aus Prenzlberg, dem Paradebeispiel vollzogener Gentrifizierung. Der Mann war vor 25 Jahren als Student nach Prenzlau gezogen und Teil eines klassischen Gentrifizierungsprozesses, in dem er sich als Gutverdiener die wachsenden Mieten leisten konnte – im Gegensatz zu einem großen Teil der Ureinwohner. Mittlerweile schreitet der Prozess fort und man kann auf Gutverdiener verzichten, weil Wohnraum in Berlin zunehmend auch Anlageform für Reiche wird. Heißt konkret für unseren Gutverdiener: Seine Mietwohnung soll in Eigentum umgewandelt werden, für 500.000 Euro, was selbst für Gutverdiener offensichtlich eine Finanzierungsschmerzgrenze darstellt. Unser Kunstlehrer wird also vom Eigentümer mit jenen Kleinterrormitteln aus der Wohnung gedrängt, an deren Ende Entmietungsspezialisten auch schon mal die Versorgungsleitungen im Haus kaputt kloppen oder 30 Wanderarbeiter in die Nachbar-Wohnung einmieten, die andere Wohnvorstellungen als Kunstlehrer haben.
Findet unser Gutverdiener nicht gut, dass er auf einmal in der Rolle des Verdrängten ist. Und da er als Kunstlehrer Phantasie hat, hat er ein Protest-Plakat gepinselt, auf die Strasse gehängt und den Protest öffentlich gemacht.
Womit er sich im klassischen Schnauze-halten-Dilemma befand. Im erwähnten Artikel der Berliner Tageszeitung wird völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass unser Kunstlehrer ja Teil des Gentrifizierungsprozesses war, der immer weiter fortschreitet. Nun hat er halt die Arschkarte gezogen, dass Gutverdienen nicht mehr reicht. So funktioniert Kapitalismus eben. Also ich hätte da meine öffentliche Schnauze gehalten, um mich nicht aus ethischer Sicht bis auf die Knochen zu blamieren, wäre dann aber in dem Dilemma gewesen, ins Nachbarviertel (z. B. Friedrichshain) ziehen zu müssen.
wrangelkiez
Kein Dilemma, sondern legitimer Widerstand. Hier setzen sich Anwohner in Kreuzberg dafür ein, dass der letzte türkische Gemüseladen nicht aus ihrem Kiez verdrängt wird. Man gut, dass ich kein Gutverdiener bin. Mir reichen die Dilemmata meines Lebens auch so schon.

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