
Berlin – Jahrhundertregen 28.06.2017. Innerhalb weniger Momente waren Straßen unpassierbar, Autos soffen ab, Gullys wurden hochgedrückt und Leute plumpsten in die Löcher. Beim Versuch eine Straße zu überqueren, war ich in Sekundenschnelle von Kopf bis Fuß durchnässt, trotz Schirm und Regenklamotten. Ein Tag voller Urgewalt und nach dem Regen in Hannover vor ein paar Tagen das zweite Jahrhundertereignis in Sachen Wetter innerhalb einer Woche. Ich nehme das dem Wetter nicht übel, die Natur kann nicht gegen ihre Natur.
Einen Tag später, in Berlin herrschte immer noch wetterbedingter Ausnahmezustand, eine Urgewalt der anderen Natur, der kapitalistischen: Die Räumung der Friedel 54, ein Nachbarschaftsladen in Neukölln.

Räumung is nich. Auch wenn Nachbarschaftsläden nicht das Soziotop sind, in dem ich verkehre, finde ich ihre Existenz sinnvoll, nützlich und unterstützenswert, also war ich bei der Demo dabei, zumal Neukölln mein Kiez ist, wenn ich in Berlin abhänge. Inmitten der überwiegend autonom abgedunkelten Kleidung wirkte ich mit meinem zartrosa Designerhemd im psychodelischen Retrostyle ungefähr so unauffällig wie ein Punk auf der Jahres-Hauptversammlung der Deutschen Bank, was durch die Tatsache, dass 99 % der Anwesenden meine Kinder hätten sein können, auch nicht viel besser wurde. Zwei Dinge fielen mir auf: Die Demonstrantinnen waren fast alle unvermummt, es blieb dann auch beim handelsüblich niedrigschwelligen Gerempel. Und es waren wenige „normale“ Anwohnerinnen oder Unterstützerinnen dabei. Ohne Unterstützung des liberalen Bürgertums, von der Zivilgesellschaft über die sogenannten „linken“ Parteien bis hin zur Ministerial-Bürokratie, sind aber alternative Lebens- und Arbeitsformen, wenn sie gegen zur Zeit noch geltendes Recht verstossen, nachhaltig kaum zu organisieren. Ansätze beim roten und grünen Spektrum der Berliner Koalition gibt es ja, siehe im Link der Zeit oben, nur die Sozis sind in alter Noske-Manier mal wieder ganz vorne dabei, wenn es nach rückwärts geht. Irgendwie muss ja die 20 Prozent Marke bei der Bundestagswahl zu knacken sein, nach unten …
Da selbst die Polizei einen beklagenswerten Mangel an Unpünktlichkeit an den Tag legte, um 9 Uhr sollte Räumung sein, und um 10 Uhr (!) war immer noch fröhlicher Parolen-Wettbewerb angesagt, zog ich mich zu einem revolutionären Zweitfrühstück in ein nahegelegenes Szenelokal zurück. Ich pfiff mir einen Cuba libre rein und krakeelte danach halblaut ein zorniges: „No pasaran“ in Richtung Tatort. Alkohol zu so früher Stunde zeitigt verheerende Wirkung bei mir. Wirkung zeigte auch das folgende Plakat bei mir

Schönes Plakat, das erkenntnistheoretische Horizonte öffnet. Der Miethai steht für mehr: Es geht grundsätzlich um die Lücke zwischen Erkenntnis und Handeln. Wie werde ich ein besserer Mensch? Ich für meinen Teil halte es da mit dem Römer Properz: „In großen Dingen genügt es, sie gewollt zu haben.“ (In magnis et voluisse sat est.)
Hat übrigens nix mit Proporz zu tun.
01.07.2017 – Urgewalten: Natur & Kapitalismus.
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