04.01.2018 – Es brennt

plakat
Werbe-Plakat von Änne Koken, 1912. Aus der Ausstellung „revonnaH. Kunst der Avantgarde in Hannover 1912–1933“, Sprengel Museum Hannover, bis 07.01.18.
Eine sehenswerte Ausstellung, die die Entstehung, Entwicklung und die unterschiedlichen Strömungen von Avantgarde Kunst in Hannover bis zum Begin des Faschismus anschaulich macht. Ich tapste also bildungsbürgerlich durchaus ergriffen an einem Freitag durch die Ausstellung. Freitags ist im Sprengel der Eintritt frei und bei zweimal Sprengel Freitag im Monat habe ich einen 10 Jahre alten weißen Port wieder raus. Soviel zur angewandten ökonomischen Dialektik von Genuss & Ästhetik. Zum Ende der Ausstellung verspürte ich ein leichtes Unbehagen, amorph grummelnd in der präverbalen Ebene meines Hirnes. Beim letzten Bild, versteckt irgendwo im Keller, dieser verkackte Bau ist sowas von unübersichtlich und beschissen ausgeschildert, wurde mir blitzartig klar, was mein Unbehagen war.
rodtschenko
Aleksander Rodtschenko. Bücher für alle Wissensgebiete. Werbeplakat für den russischen Lengis Staats-Verlag, 1925.
Rodtschenko war ein führender Vertreter der russischen Avantgarde. Die russische Avantgarde führte bis Ende 1920 auf allen Gebieten der Kunst revolutionäre Produktionstechniken, Theorien und Praxiselemente einer Aufklärung und Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten ein. Die beteiligten Künstler*innen waren überzeugte Anhänger*innen der Utopie des Sozialismus und arbeiteten mit ihren Mitteln auf allen gesellschaftlichen Ebenen an deren Umsetzung. Wofür nicht wenige unter dem späteren stalinistischen Terror mit dem Leben bezahlten. Ohne die russische Avantgarde ist die moderne westliche Kunst nicht denkbar. In meinen Augen ist sie die bedeutendste Kunstrichtung des 20. Jahrhunderts.
Rodtschenkos Plakat hat all das, was den anderen Exponaten der Ausstellung fehlt: Expressiver Furor, man merkt das Feuer einer Idee, das Plakat – durchaus pathetisch aus heutiger Sicht – ergreift Partei. Es brennt. Bildlich gesehen. Der Rest der Ausstellung verdeutlicht das grundsätzliche Elend von Avantgarde: Formal gesehen der Zeit voran, aber da fehlt oft – außer dem Gedanken der Dekonstruktion und Neuerung- eine Leitidee. Das schwankt wie Schilf im Winde, lässt sich vereinnahmen, instrumentalisieren auch für Reaktionäres. Beispiel: der italienische Futurismus, oft kriegsverherrlichend an der Seite von Mussolini.
Der spätere Weg von Künstler*innen der Ausstellung während der Nazizeit verdeutlich das: Innere oder äußere Emigration, Pakt mit den Nazis oder ermordet in Auschwitz.
Aber machen Sie sich ein eigenes Bild, liebe Leserinnen. Wie gesagt: Morgen ist der Besuch für lau. Und für einmal im Monat lau gibt es schon einen ordentlichen Sauvignon.
Die Kunst ist umsunst. Aber nicht vergebens.

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