
Veränderungen im Denken? Sofort zum Arzt!
Anzeige in der Berliner U-Bahn. Man kann eine Großstadt auch wie eine Zeitung lesen: Graffitis, Plakate, Anzeigen im öffentlichen Raum, all das ergibt im Montageprinzip ein quasi subkutanes Bild der Stadt, jenseits von Internetblogs und Reiseführern, falls es die überhaupt noch gibt.
Menschen mit Reiseführern vor dem Gesicht statt eines Smartphones sind mittlerweile verhaltensauffällig. Vollkommen aus dem öffentlichen Raum verschwunden ist der Anblick von Menschen, die im Wind mit dem Entfalten von Falk-Stadtplänen kämpfen. Da müsste man mal ein nostalgisches Video drüber drehen, über diesen Kampf mit den Windmühlenflügeln und am Ende fragt der völlig entnervte Protagonist eine Passantin, wo es denn hier langgeht. Die natürlich, wie in Berlin üblich, auch nicht von hier ist. Woraus sich eine zauberhafte Liebesgeschichte entwickelt. Mit Google Maps fehlt mir für sowas die – digitale – Phantasie.
Falk-Pläne und andere Artefakte der analogen Zeit sterben einen langsamen ungesungenen Tod. Irgendwann packt man sie einfach nicht mehr ein und erinnert sich Jahre später, so wie ich jetzt, zufällig wehmütig an dieses Monstrum. Wobei sowas natürlich auch zwischendurch amüsant-gelehrt in Feuilletons gewürdigt wird. Ein anderer Akt war der Transport der Schreibmaschine in den Keller, das hatte was von einer spektakulären Beerdigung. Es hat dann noch Jahrzehnte gedauert, bis ich meine alte Adler vom Keller auf den Sperrmüll entsorgte.
Veränderungen, wo man hinblickt. Veränderungen technologischer Art liebt der Deutsche nicht nur, er erfindet sie auch massenhaft selbst. Spielerisch-zärtlich eignet er sich neue Technologien gierig an. Widerwilliges Draufeinlassen ist der Ausnahmefall. Ich bin so ein Fall, nach dem Motto „Agenda“ (lat.: „Was (halt) getan werden muss“). Grundsätzliche Technologie-Verweigerer gelten als schrullig und unterliegen schnell dem Pathologie-Verdacht.
Anders geht der Germane mit Veränderungen im Denken um. Das liebt er nicht nur überhaupt nicht, er hasst es regelrecht. Veränderungen im Denken unterliegen dem gemeinen Germanen schnell dem Pathologie-Verdacht.

Da liest er lieber Lebenshilfe-Ratgeber, begibt sich in eine Selbsthilfegruppe, fragt die Sterne, die liebe Göttin, Tetrahydrocannabinol, Allehol oder treibt Sport. (Weitergehende Beiträge über Selbstoptimierung als Religionsersatz entnehmen Sie bitte den Feuilletons der letzten 20 Jahre).
Insofern ergibt die Anzeige der Charité oben einen ganz tiefen Sinn, nachdem ich im ersten Moment einen Lachanfall kriegte, naiv-empört in mich hineinfragte:
„Ja, wo sind wir denn, wenn wir über Veränderungen im eigenen Denken schon klinische Studien machen, zur Validierung vom Verdacht auf krankhafte Abweichung vom Normalverhalten!?“
Ich Tor. Die scheinbar verunglückte Formulierung der Anzeige spiegelt den von mir geschilderten Stand der vorherrschenden gesellschaftlichen Perspektive auf das Denken wider.
Nichts steht ohne Grund geschrieben, schon gar die Menetekel an der Wand.
Die in dem Fall die Decke der Berliner U 7 Richtung Neukölln war.