08.08.2018 – Irgendwer muss ja das Geld für dieses Rumgesülze hier verdienen.


Das letzte besetzte Haus in Berlin, Linienstr. 206. Geräumt 2016.
Sämtliche besetzte Häuser in Berlin sind entweder geräumt oder unter unterschiedlichen Vorzeichen (Kauf durch Stiftungen o. ä.) legalisiert worden.
In den Achtzigern und Neunzigern gab es Hunderte besetzter Häuser in Berlin, bei deren Räumung es mitunter zu bürgerkriegsähnlichen Straßenschlachten kam.
Hintergrund Vergleich damals – heute:
1990 gab es drei Millionen Sozialwohnungen in Deutschland. Heute gibt es 1,2 Millionen, Tendenz weiter sinkend.
Heute gibt es ca. 800.000 Wohnungslose. Genaues weiß kein Mensch, es gibt darüber nicht eine einzige valide Statistik. Und das in einem Land, wo jede Gelbbauchunke eine Personalnummer besitzt. Wieviel Wohnungslose es 1990 auch nur annähernd gab, weiß ich nicht. Mit Sicherheit nur einen Bruchteil.
Weiter: die Armutsquote lag in den Neunziger bei ca. 11 Prozent, heute liegt sie bei 16 Prozent.
Also ist es nicht vermessen zu behaupten, dass die soziale Spaltung heute wesentlich tiefer ist als in den Neunzigern und die Wohnungssituation dramatischer. Trotzdem gibt es nicht ein einziges besetztes Haus in ganz Berlin.
Es ist ein wunderbar milder Morgen, ich war eben textilreduziert im Garten, die Wärme liegt sanft auf der Haut wie ein Seidenshirt, ein paar Vögel zwitschern hitzeermattet lustlos vor sich hin, die Brut ist aus dem Haus, die Katze träge, was soll man da groß zetern, zwei, drei Bienen torkeln ziellos in der Luft unterm japanischen Flieder umher, nichts liegt ferner als soziale Konflikte und Ursachenforschung. Aber die Geschichte mit den (nicht-) besetzten Häusern geht mir einfach nicht aus dem Kopf.
Wenn man Hausbesetzungen als eine Form sozialen Widerstandes betrachtet, gibt es einige soziologische Erklärungen für die hier extrem verkürzt geschilderten Entwicklungen (aber reichen die? Mir fehlt da irgendwas, schwer greifbares): In den 90ern waren Hausbesetzungen nicht nur Mittel zum Zweck (der Befriedigung des Wohnbedürfnisses), sondern auch Ausdruck und Strategie eines nennenswert vorhandenen linksradikalen Impulses gegen einen zunehmend durchökonomisierten Kapitalismus. Es gab Formen sozialer Bewegungen, aus denen Hausbesetzungen sowohl Personal als auch ideologische Referenzen bezogen: Reste der Arbeiterbewegung, Frauenbewegung, Ökobewegung, jeweils mit ihren radikalen Fraktionen.
Darüber hinaus, nicht zu vernachlässigen, gab es im linksliberalen Bürgertum Sympathisantinnen. Ohne die wäre z. B. eine Legalisierung der Hamburger Hafenstr. nicht möglich gewesen.
Das alles gibt es heute nicht mehr. Und insofern beschreibt der Zustand einer nicht vorhandenen Hausbesetzerszene pars pro toto den unserer Gesellschaft. Ihr sind nicht nur die linken, sondern auch die liberalen Impulse ausgegangen. Ermattet, wie von einer Hitze, hechelt sie, schon leicht agonisch wie ein kranker Hund, der am Boden liegt, einem Zwischenzustand entgegen, den ich mir jetzt lieber nicht vorstellen möchte, weil der Tag, siehe oben, einfach zu schön ist.

Hitze, gestern Mittag, Veranda in der Sonne, analog gemessen über 50 Grad.
Wir, liebe Leserinnen, wollen jetzt aber keine Analogien zwischen dem Klima und der Gesellschaft ziehen, siehe Hitzeermattung, am Horizont ziehen dunkle Wolken auf und es blitzt und donnert, etc. blabla. Das ist platter Symbolismus und in welchen literaturgeschichtlichen Genres der gerne verwendet wird, das ist das Thema unseres nächsten „Wort zum Sonntag“. Ich muss jetzt leider anfangen zu ackern.
Irgendwer muss ja das Geld für dieses Rumgesülze hier verdienen.

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