13.08.2018 – In meiner Jugend als arger Zecher


In meiner Liste der wundersamen und bewahrenswerten Wörter auf Platz 5: Fernsprecher (gesehen in der Berliner Kongress-Halle, vulgo Schwangere Auster).
Ich habe mal eine Fotoserie begonnen von Telefonzellen, aber bald wieder aufgegeben. Es gibt keine mehr. Ich trauere dem nicht nach, es gibt ja auch keine Pferdetränken oder Kesselflickereien mehr. Ich halte nichts von rührseliger Nostalgie, gerade von Alternativ-Spießern, die jede Minimalveränderung in ihrem Kiez mit der Verbalmilitanz früherer Steinwurfzeiten ablehnen. Das ist jene Form von Romantik, die in sich den Kern der reaktionären Aggression gegen Zivilisation, Großstadt, Veränderung und Moderne schlechthin trägt. Wohin das in ersten Schritten mit großflächiger lokaler gesellschaftlicher Wirkung führt, hat man an dem Volksbegehren gegen die Bebauung des Tempelhofer Feldes gesehen, bei dem die BI-erfahrenen, Anti AKW-, Frauen-, Öko- und überhaupt sehr bewegten Kiez-Anwohnerinnen einen – erfolgreichen – Volksentscheid gegen jegliche Bebauung des Areals lostraten. Angesichts der dramatischen Wohnsituation in Berlin eine egoistische Niedertracht sondergleichen. Allein das Wort Volksentscheid verursacht mir Brechreiz. Nun Volk, steh auf und entscheide? In meinen Augen ist in der aktuellen historischen Situation mehr Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie der direkte Weg zur Abschaffung der letzteren.
Gegen derartigen naiven Beteiligungsquark würde ich militant und radikal kämpfen. Notfalls mit jener Waffel in der Hand, die die anderen am Kopf haben. Und schlimmstenfalls würde ich einen Volksentscheid lostreten, der sich für ein Verbot jeglicher Volksentscheide einsetzt. So wahr mir Gott helfe. Was in meinem Fall ein klassischer Fall von Selbsthilfe ist.
Aber schön sieht der Fernsprecher schon aus und man sollte solche Relikte liebevoll archivieren, katalogisieren, thesaurieren und mit rührenden Gesängen würdigen, der Nachwelt zum ehrenvollen Gedenken:
In meiner Jugend, als arger Zecher,
kotzte ich mitunter in Fernsprecher-
Zellen. Mit Handys fällt das flach.
Ich wünsche Ihnen einen schönen Tach.

So in der Richtung.
Ansonsten danke ich dem Fortschritt auf Knien für Smartphones und Google Maps und so Zeug. Ohne das wäre ich in der Fremde und da für die Arbeit hilflos wie Moses im Baströckchen. Oder war es ein Bastkörbchen?
Apropos Bastkörbchen: Heute vor 57 Jahren wurde die Berliner Mauer gebaut. In der hiesigen HAZ fand ich dazu keine Zeile. Es gibt nur drei Stellen, wo Mauersegmente original erhalten sind, alle anderen Mauerreste sind sogenannte Hinterland-Mauern, die oft nicht am Originalplatz stehen. Auch eine Art des Umgangs mit Geschichte.

Farbfernseher 98 DM. Der Laden ist nicht erst seit gestern pleite. Oder da ist eine Kreuzberger Szene Kneipe drin, die so heißt. Unlängst am Grill behauptete ein Kumpel, in hiesigen Restaurants seien bei der Euro-Einführung mitunter die Preise 1:1 von DM auf Euro umgesetzt worden. Solche urbanen Erinnerungsmythen wabern auch in den Köpfen verständiger Menschen und lassen sich durch Argument, Statistik und Aufklärung nicht ausrotten. Und die Bahnstrecke nach Berlin ist auch wieder unterbrochen. Was soll nur aus Deutschland werden…
Einen guten Start wünsche ich Ihnen, liebe Leserinnen.

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