03.10.2018 – Der Abend war wegen der Currywurst ein Desaster.


Elbphilharmonie. Großer Saal.
Der Mensch besitzt im Gegensatz zum Tier die Gabe der Introspektion, also Selbstbeobachtung, was ihn mitunter nach Überwältigung seiner Sinne trachten lässt, deren Sonderform der Rausch ist. Wer will schon immer sie selbst sein. Für den gemeinen Homo Fussballeriensis, einer evolutionären Stufe zwischen Neandertaler und Brüllaffe, ist es das Zuschütten mit Alkohol vor dem Fernseher. Für Angehörige der Spezies Sapiens kann diese Überwältigung in Kunst, Liebe, Natur, meinetwegen auch bewusstseinserweiternden Drogen liegen. Stelle anheim.
Bei mir erfolgte eine überwältigende Sinneserfahrung letzten Sonntag an und in der Elbphilharmonie, der Kultur-Kathedrale der Bourgeoisie schlechthin. Nach der Straßen-Aktion am Vortag in Lüneburg war mich nach Luxus, Sinnesgenuss, anderer Welt. Ich war an eine günstige Karte für Bruckners Achte gekommen. Über fast alle postmodernen Großbauten vom Potsdamer Platz über das Humboldtforum bis zur Frauenkirche etc. pp., ist die Fachwelt gespalten, aber das ästhetische Urteil über die Elbphilharmonie war ziemlich einhellig: grandios gelungen. Egal ob man von der Ferne der Landungsbrücken blickt, von nahem daran hochschaut oder das Interieur genießt: ich finde es überwältigend.

Der Blick nach draußen auf den Hamburger Hafen ist auch nicht von schlechten Eltern. Sowas hat Berlin nicht.
Und endlich mal eine Konzerthaus-Akustik, die mich als Rock’n Roll Sozialisiertem beeindruckte: da kommt Dynamik und Wucht über die Rampe, was für so einen Fürsten des Lärms wie Bruckner nicht ganz unwichtig ist.
Natürlich sind solche Kathedralen auch politisch aufgeladen, wie ihre sakralen Vorgänger transportieren sie eine Geschichte von Macht, Unterdrückung und Klassenverhältnissen. Aber wie ihre sakralen Vorgänger sind profane Kathedralen wie die Elbphilharmonie auch Symbole menschlichen Drängens nach Fortschritt, Veränderung, letztlich nach einem – ambivalenten – Mehr an Zivilisation. Sie sind grandiose Orte von Urbanität und Genuss. Und der Skandal, der ihnen innewohnt, ist ja nicht ihr Preis, sondern ihre Klassengebundenheit. Der Skandal liegt darin, dass eine Gesellschaft, die sich das leisten könnte wie die unsere, es nicht allen ermöglicht, solche Abende zu genießen, sowohl materiell als auch von der ästhetischen Bildung her. Wer, wenn das gegeben wäre, sich immer noch vor der Glotze beim Fußball zuschütten will und sonst von der Welt nichts kennt, auch wenn er schon überall war, ist dazu herzlich eingeladen. Dafür haben wir den freien Willen und die eigene Verantwortung.
Leider gibt es auch für diesen Abend nicht die volle Punktzahl: ich gönnte mir im Restaurant der Elbphilharmonie Currywurst und Champagner. Der Schampus, ein Ruinart, war gut. Aber die Currywurst war einfach Scheiße. Wäre ich ein Snob, würde ich sagen: Der Abend war wegen der Currywurst ein Desaster. Gut, dass ich kein Snob bin. Und jetzt freue ich mich auf die nächste Straßen-Aktion, am Weltarmutstag, dem 17.10, in der City von Hannover. Bin gespannt, auf welche Sinnesüberwältigung mich danach gelüstet.

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