26.02.2019 – Heute mal volkstümlich


Kinderzirkus vor maroder Großwohnsiedlung.
Ich habe Zirkus nie gemocht. Mir war das alles fremd als Kind, vor den Löwen hatte ich eher Angst, warum Artisten sich freiwillig in gefährliche Situationen brachten, war mir wesensfremd und Clowns fand ich einfach unwürdig. Ebenso Jahrmärkte. Das Einzige, was mich dort interessierte, war der Hauptgewinn an Losbuden: Freie Auswahl. Ich hätte dann sofort die kleine Blechschachtel genommen, die auf der Bühne der Losbude auf einem wackligen Tisch stand: Die Kasse.
Geld, was sonst. Dieses ganze Inszenierungsgedöns, der Budenzauber, die Atmosphäre erreichten mich nicht, rührten mich nie an. Die Wege des HERRN sind wunderlich, und so wurde aus mir trotz dieser frühkindlichen Anwandlungen eher ein Freund der Inszenierung und kein beinharter Kapitalist. Wesensmerkmal eines beinharten Kapitalisten ist unter anderem: Akkumulation von Kapital. Was bei Normalverdienerinnen, die die Möglichkeit der Aneignung von Mehrwert nicht besitzen, auf Anhäufung von totem Geld mittels lebendigem Konsumverzicht hinausläuft, wozu es einer bestimmten Triebstruktur bedarf oder eine solche produziert. Flach formuliert: Wenn man immer nur die Arschbacken wegen Sparen zusammenkneift, geht irgendwann die Lust am Leben flöten.
Das ist jetzt zugegeben wirklich sehr volkstümlich. Aber nur so funktioniert Kapitalismus und genau das war eine der grundlegenden Erzählungen, die unsere Nachkriegsgesellschaft am Laufen hielten: Wohlstand für alle. (In Klammern ist immer dabei gefügt: Durch Arbeit und durch Sparen. Das sind die tragenden Säulen dieser Ideologie.) Gelogen war das alles von Anfang an, aber es hat 60 Jahre einigermaßen funktioniert, sieht man von „Kollateralschäden“ wie wachsender Armut, Wohnungslosigkeit und Ausgrenzung ab. Wie das so ist mit Ideologie. Aber irgendwann ist jede Ideologie am Ende und wie sehr uns dieser Kitt, der den Laden bisher zusammenhielt, zerbröselt, ja regelrecht um die Ohren fliegt (Kitt, der um die Ohren fliegt? Geht’s noch, Fürst der Metaphern?!), zeigen zwei Zahlen, irgendwo versteckt im Kleingedruckten der letzten Tage, also wichtig: Jede*r dritte Deutsche kann nicht sparen mangels Tiri-Tari, Tendenz rapide steigend.
Und: Nicht einmal jeder zehnte 54- bis 60-Jährige will bis zur regulären Altersgrenze arbeiten.
Die Leute haben also so die Schnauze voll von der Tretmühle Arbeit, dass sie so früh wie möglich rauswollen. Obwohl sie in der Mehrzahl bestimmt keinen Plan haben, was sie dann machen sollen, und mit der Rente noch mehr überfordert sind als mit der Arbeit.
Und das ist die Kohorte der Babyboomer, die im überwiegenden Fall eine Rente oberhalb der Armutsgrenze beziehen. Die nachfolgenden Generationen sind massiv von Altersarmut bedroht, siehe u. a. Sparquote.
Wer also diese beiden Zahlen addiert und sie mit der Variablen „Zyklische Krisen des Kapitalismus“ multipliziert, erhält als Produkt dieser Gleichung den zukünftigen Zustand unseres Gemeinwesens und die psychosoziale Verfassung seiner Insassen. Eine Veranstaltung, bei der ich lieber nicht dabei sein möchte.
Mir schwebt da eher Urlaub auf Corfu vor.

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