19.10.2022 – Über den Einfluss atomarer Bedrohung auf die Populärkultur


Bucht auf Korfu. Als ich von der Felsspitze des Hügels herunterschaute, dachte ich: Sieht aus wie ein Südsee-Atoll. Im Herunterkraxeln ging mir daraufhin ein Schlager aus den Sechzigern nicht mehr aus dem Ohr: Der Apoll vom Bikini Atoll.
Ein nachgerade dadaistischer Text in Verbindung mit elektronischen Musikelementen. Galten vorher Kraftwerk und Tangerine Dream Anfang der Siebziger als Wegbereiter elektronischer Popmusik, muss auf Grund meiner Forschungen über vergessene Avantgarde die Geschichte neu geschrieben werden, gebührt doch dieser Titel jetzt den Protagonistinnen dieses Stücks, Miss Venus und dem interplanetarischen Studio-Orchester (allein der Name ist seiner Zeit um 60 Jahre voraus), ein Jahrzehnt vor den oben Genannten.
Ein Stück, das mehrfach doppelbödig zu verstehen ist, was seine Genialität noch steigert. Die Interpretin wacht nachts in ihrem Bett auf, wo ein grüner (!, Drogen!) Mann sitzt. Ab da ist die Marschrichtung klar, es geht um codierte Sexualität, die Sie gerne selber im Einzelnen dechiffrieren können. Der Mann hat rote Augen (zu viel gekifft) und gelbe Haare (Vorwegnahme des Punk Style). Und ab hier wird die Doppelbödigkeit zur Triplebödigkeit und wir kommen ohne Kenntnis des historischen Kontextes der Produktion nicht aus. Den Hinweis liefert der Titel: Der Apoll vom Bikini Atoll.
Auf dem Bikini-Atoll fanden in den Vierzigern und Fünfzigern Atomwaffenversuche statt, unter anderem mit der Wasserstoffbombe Bravo als stärkste Bombe, die je von den USA gezündet wurde. Ihre Sprengkraft war weitaus stärker als erwartet. Mit rund 15 MT entsprach sie der von etwa 1.000 Hiroshimabomben . Nicht wenige befürchteten damals bei derartigen Tests angesichts der kaum zu kalkulierenden Auswirkungen den Weltuntergang, unter anderem durch Risse im Erdmantel. In den Folgejahren beeinflusste die atomare Bedrohung, hier noch mittels Waffen, die „friedliche“ Nutzung von Atomenergie wurde erst später zum Mainsteam-Kritikthema, massiv die Kulturproduktion. Literatur, vor allem Science Ficktion, die hier ein ganzes Subgenre dystopisch-postatomaren Weltgeschehens hervorbrachte, und Popmusik der damaligen Zeit können nur verstanden werden vor dem Hintergrund eines drohenden atomaren Armageddon, sowohl im expliziten Aufgreifen und Verarbeiten dieses Topos, als auch in seiner Verdrängung. Langsam entstand auch eine Vorstellung von den komplexen Konsequenzen atomarer Verseuchung bis hin auf die genetische Ebene, an deren Bikini-Atoll-Ende dann auch schon mal grüne Männer mit roten Augen und gelben Haaren stehen können.
Dass der Apoll vom Bikini Atoll bis heute noch nicht gesampelt wurde, ist mir schleierhaft. Mit ein paar atomar-pulsierenden Beats und electronic-gimmicks würde das Kult werden. Vielleicht mach ich es ja. Lassen Sie Text und Musik dieser völlig zu Unrecht vergessenen (539 Klicks!) Perle auf sich wirken, liebe Leserinnen.
In meinem obigen Fall jedenfalls wunderten sich ein paar Griechen im nahegelegenen Bergdorf über einen wunderlichen Gesellen, der ihr Dorf durchmaß und in einem Dauerloop die Zeilen sang:
Ich war der a e i o u Aua Aua, der Apoll vom Bikini-Atoll.

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