10.10.2023 – Gedankenarm

Israel Solidaritätsdemo, Hannover, 09.10.2023. Demos mit Nationalfahnen und Hymnen verheißen normalerweise nichts Gutes, im Fall Israel ist das was anderes. Dass der Heimatstaat der Juden in seiner Existenz bedroht wird, muss gerade für Deutsche unerträglich sein. Zumindest für jene, deren ethischer Kompass noch funktioniert. In Hannover waren ein paar Hundert bei der Demo. Ich habe einige Freunde und Bekannte getroffen, was immer mit zum warmen Gefühl von Solidarität bei derlei Veranstaltungen beiträgt. Aus den Zusammenhängen der Landesarmutskonferenz habe ich niemanden getroffen. Das kann natürlich an der Unübersichtlichkeit der Demo gelegen haben.

Die Stimmung, meine Stimmung, eher grau in grau und düster, wie im Foto vom Freund und Kollegen Achim Beinsen

Neben mir Marc Beinsen, Chef der Theatergruppe Improkokken, mit dem ich für die Landesarmutskonferenz in der Flüchtlingskrise 2015/16 zwei Theaterstücke mit Geflüchteten produziert habe . Ich bin mir nicht sicher, ob ich ein derartiges Projekt in dieser Form nochmal produzieren würde. Die Vorfälle in Neukölln und anderswo, wo auf Hass-Demos offene Freude für den Terror der Hamas gezeigt wurde, belegen wieder einmal, dass wir ein wachsendes Problem mit migrantischem Antisemitismus haben, verbunden mit mangelnder Akzeptanz unseres Rechtsstaats, mangelndem Integrationswillen und mangelnder Akzeptanz der Grundwerte der Aufklärung, die die Basis unserer – noch – zivilisierten Gesellschaftsordnung bilden. Diese Grundwerte sind abgebildet im Grundgesetz Paragraph 1, Absatz 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Und Paragraph 3, Absatz 3: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Ich habe mich hier im Blog schon mehrfach kritisch über die Intoleranz von Teilen der muslimischen Migranten geäußert, was gerade in Neukölln auf Grund der kritischen Maße dort permanent im Alltag sichtbar wird. Eine No go Area für Juden mit den Insignien ihres Glaubens, es wäre lebensgefährlich dort mit einer Kippa unterwegs zu sein, Misogynie ist dort ebenso an der Tagesordnung wie Angriffe auf Mitglieder der queeren Community. Da ist das Machogehabe von testosterongesteuerten, fast immer arabischen jungen Männern noch ein geringeres Übel, die bei mir in Hannover umme Ecke mit ihren tiefergelegten Hart-Proll-Schlitten demonstrativ durch eine autofreie Straße brettern. In deren Herkunftsländern gehört der Antisemitismus fast durchgängig zur nationalen Identität und dieses wachsende Problem kommt täglich zu uns. Migration.

Das ist ein heikles Thema, weil bei einer falschen Formulierung spielt man den hiesigen Rassisten in die Karten, mit ihrem dumpfen „Ausländer raus“, und die notorischen Gutmenschen mit ihrem „No borders, no limits“ jaulen sofort auf. Was sich in alternativen Vierteln, weitab vom Geschehen in Neukölln in der Sonnenallee und überhaupt weitab von sozialen Brennpunkten, leicht jaulen lässt. Es ist aber kontraproduktiv, vor aktuellen Entwicklungen die Augen zu verschließen und sich in ideologischen Grundsätzen zu verbunkern, die von der Realität überholt werden. Auch hier gilt: Was schlecht verdrängt wird, kommt niemals gut wieder, und der Kopf ist rund, damit die Gedanken die Richtung ändern können. Letztlich geht es um die Frage der uneingeschränkten Solidarität mit Israel und der, wie wir mit Migration umgehen.

Nicht hilfreich sind da auch Äußerungen von Politikern wie dem niedersächsischen MP Stephan Weil, der gedankenarm die klassische Politposition des Einerseits/Andererseits und „Interessen beider Seiten berücksichtigen….“ daherplappert, wenn er sagt: „Diese furchtbaren Terrorangriffe müssen schnell beendet werden, es darf auf beiden Seiten kein weiteres Blutvergießen mehr geben“. Das stellt eine inakzeptable Äquidistanz zu beiden Seiten her, Israel und Hamas. Wie soll sich Israel anders vom faschistischen Terror der Hamas befreien als durch Gewalt, Militär, Waffen, Krieg? Nochmal für Herrn Weil zum Mitdenken: Das ist ein Terrorüberfall von Barbaren auf eine demokratische Zivilisation. Es gibt da keine zwei Seiten, die gleichberechtigt wären.

08.10.2023 – Der Angriff der Barbarei auf die Zivilisation

NWZ, 30.09.23. Mittlerweile nutze ich öffentliche Auftritte wie hier als Festredner zum 75jährigen Jubiläum der Wiedergründung der AWO Weser-Ems zur Warnung vor dem Wiedererstarken des Faschismus in Deutschland. Insofern fallen privater Blog und Öffentliches zusammen. Die AWO, die sich übrigens in ihrem Grundsatzprogramm den Idealen des Sozialismus verpflichtet, hat in der Geschichte die Erfahrung gemacht, was Faschismus bedeutet: Sie wurde von den Nazis verboten. Welche Lehren die AWO, und andere Verbände und Organisationen der Zivilgesellschaft, im Ernsteren der Fälle daraus zieht, bleibt abzuwarten.

Heute sind Wahlen, in Bayern werden reaktionäre, faschistoide und offen rechtsextreme Naziparteien vermutlich über Zweidrittel der Stimmen erzielen. Mein Tipp: CSU 36 %, AfD 16 %, Freie Wähler 16 %. Die restlichen Reaktionär-Prozente zu 70 % fahren Halbnazis wie die Bayernpartei oder die Basis ein.

Ich glaube nicht, dass irgendein Weisswurstlutscher, Lederhosenfetischist oder Trachtentrottel angesichts des Überfalls der Hamas-Terroristen auf Israel das Schamgefühl aufbringt, entgegen seiner Absicht den letztgenannten Parteien, die offen antisemitisch agieren, doch die Stimme zu verweigern. Dass er einfach im Maßkrug-Koma Zuhause beim Pornoglotzen vor sich hindeliriert. Bevorzugter Steifen, sorry, Streifen: Unterm Dirndl wird gejodelt. Alois Brummer, 1973. Mit Konstantin Wecker.

Wenn ich die hilflosen Appelle der Bürgerpresse vor dieser Wahl höre, kriege ich Ohrenbluten: Gehen Sie zur Wahl, nutzen Sie Ihr demokratisches Recht, stärken Sie die Demokratie.

Gequirlter Unsinn. Die Tatsache, dass die Wahlbeteiligung in den letzten Jahren nicht wie vorher dramatisch weiter gesunken ist, zahlt fast ausschließlich auf das Konto der AfD ein. Die größten Wähler-Wanderungen sind die von den Nichtwählerinnen zur AfD. Immer mehr Menschen nutzen demokratische Errungenschaften wie freie Wahlen oder das Demonstrationsrecht, siehe Querdenker-, Reichsbürger- und Coronaschwurbler-Demos, dazu, die Axt an die Wurzeln der Demokratie zu legen. Was für ein tragödisches Dilemma. Richtig wären also Appelle zur Wahl wie: „Bleibt Zuhause! Wählen lohnt nicht“. „Wer seine Stimme abgibt, hat sie verloren.“ „Wenn Wahlen was ändern würden, wären sie verboten.“ Letztere Aufrufe sind übrigens klassische radikallinke Claims von früher. Zivilgesellschaftliche Pflicht vor den nächsten Wahlen ist es also, den Mob von der Urne abzuhalten. Plakate kleben in sozialen Brennpunkten, wo die AfD die höchsten Stimmenanteile einfährt, mit einfachen Botschaften: „Wählen ist doof. Wer wählt, kriegt Arschkrebs. Freibier statt Wahlen.“

Der Kopf ist rund, damit Gedanken die Richtung ändern können. Wann geht das endlich mal in die Bürgerköpfe rein!? Ich sehe es echt schon kommen, dass ich mich wie früher in Nacht- und Nebelaktionen in fiesen Gegenden rumtreiben und Plakate kleben muss.

All das aber ist völlig irrelevant und ich schreibe es nur, um meine Beklemmung zu betäuben angesichts des Angriffs der Barbarei auf die Zivilisation. Nichts anderes ist der Überfall der faschistischen Hamasterroristen auf Israel, die einzige Demokratie im Nahen und auch Mittleren Osten, bis weit nach Afrika hinein. Israel ist, mit allen Schwächen, die es bei „uns“ und in den wenigen verbliebenen Restdemokratien der Welt auch gibt, der einzige Leuchtturm der Zivilisation in einem Meer von zerfallenen Staaten, barbarischen Regimen, religiösen Fanatikern. Die ein Ziel eint: Die Vernichtung Israels und Auslöschung seiner Bevölkerung. Israel hat jedes Recht auf alle Mittel der Verteidigung seiner Existenz und benötigt unsere uneingeschränkte Solidarität, ohne Wenn und Aber. Die Faschisten der Hamas treten in die Fußstapfen der SS-Divisionen, Wehrmachtsbataillone und Polizeieinheiten, die im zweiten Weltkrieg eine endlose Spur von Massakern in ganz Europa, hauptsächlich der Sowjetunion, mit Millionen von Toten hinter sich ließen, mündend im industriellen Massenmord an Millionen Juden.

Das ist der Geist der Höckes, Weidels und Chrupallas. Mit einem Unterschied: Im Gegensatz zu damals kann bei der Hamas und ihren Brüdern und Schwestern im Un-Geiste hierzulande niemand sagen, man hätte nicht absehen können, wohin das führt.

Im Grotesken liegt Tragik und Lachen der Befreiung gleichermaßen: Hitler war Postkartenmaler, Chrupalla ist Malermeister. Sowas kann man sich gar nicht ausdenken.

Es bleibt nur zu hoffen, und auch das ist für mich ein Hauch von Groteske, dass sich das Kapital die geschäftsschädigenden Fisimatenten der Faschisten hierzulande nicht allzu lange anguckt und da mal reingrätscht. Politisch instabile Verhältnisse sind Gift fürs Geschäft. Und ob nichtweiße Fachleute und Highpotentials Bock haben, sich dem in Nazi-Ostdeutschland beliebten Volkssport des „Ausländerklatschen“ zu unterziehen, wage ich zu bezweifeln. Die ausländischen Fachkräfte – und Unternehmen – gehen dann im Zweifel lieber nach Baden-Württemberg… Oder Niedersachsen?  Hier ein Auszug aus unserer Hymne :

… Fest wie unsre Eichen
halten alle Zeit wir stand,
Wenn Stürme brausen
Übers deutsche Vaterland….

Das ist doch mal ne Ansage…

07.10.2023 – Morgen um 18 Uhr gibt es eine große Verliererin

BILD

Statistik der durchschnittlichen Besucherinnenfrequenz dieses Blogs im Oktober pro Tag von 0 – 24 Uhr. Interessant an der Statistik: Es gibt kaum nennenswerte Ausreißer, keine großen Tag/Nacht Unterschiede, kaum Absinken zur TV-Prime-Time ab 20 Uhr oder einen extremen Morgengipfel, bei dem die Besucherinnen ihren Tag mit diesem Blog starten würden. Sieht man von 9 Uhr ab, wo die Meisten am Arbeitsplatz angekommen sind und den Arbeitstag vielleicht mit was Lustigem starten wollen.

Obige Statistik misst in hellblauen Pageimpressions-Balken. Pageimpressions sind die Seitenaufrufe pro Besucherin, also wenn Sie z. B. beim Besuch dieser Seite auf zwei Fotos klicken, ist das ein Besuch (=visit) und zwei Pageimpressions. Im letzten Monat hatte dieser Blog fast 50.000 Besucherinnen und über 120.000 Pageimpressions. Das ist ein sehr gutes Verhältnis von fast 1:2,5 weil die Besucherinnen demzufolge eine gewisse Verweildauer auf der Seite haben. Ein schlechtes Verhältnis wäre 1:1, weil sie offensichtlich schnell wieder wegklicken.  

Allgemein gilt: Ab 30.000 Visits pro Monat und 60.000 Pageimpressions lassen sich mit Werbung nennenswerte Erlöse erzielen. Wenn Sie, liebe Leserinnen, also hier demnächst Werbung für den Hammer & Sichel Verlag aufploppen sehen, wundern Sie sich nicht.

Die Besuchsfrequenz hier hat sich in den letzten Monaten deutlich erhöht, parallel zur Themenverschiebung im Blog. Seit ein paar Monaten beschäftige ich mich fast ausschließlich mit der zunehmenden Faschisierung unserer Gesellschaft, also eine radikale Kritik der bestehenden Verhältnisse, subjektiv, mitunter satirisch, ergo polemisch, meist entlang von persönlichen Erfahrungen und Ansichten entfaltet.

Die hohe Frequenz hier ist insofern erstaunlich, als dass ich kaum Werbung dafür mache und unprofessionell arbeite: Ich komme nicht dazu, die Kommentarfunktion zu pflegen, wegen Spamüberflutung. Blogs sollten aber auch vom Dialog leben. Hinweis für Neuhinzugekommene: Wenn Sie Kritik, Anregungen etc. haben: Schreiben Sie mir eine Mail: gleitzek@gmx.de . Erstaunlich ist hohe Frequenz auch deshalb, weil dieser Blog wenig praktische Nutzanwendung bietet, im Sinne von „Wie optimiere ich mein Betriebssystem, repariere mein Auto oder lackiere meine Fingernägel“.

Definition Blog: tagebuchartig geführte, öffentlich zugängliche Webseite, die ständig um Kommentare oder Notizen zu einem bestimmten Thema ergänzt wird.

Der erste Blog ging 1990 ins Netz. Er war von Tim Berners-Lee, dem „Erfinder“ des Internets, der diesen nutzte zum Informationsaustausch zwischen Wissenschaftlern.

Der vorliegende Blog existiert seit 2009, was im Internetzeitalter eine Ewigkeit ist. Gestartet war er als Metablog, ich wollte damit die aufkommende Blogeritis persiflieren. Im Prozess des Schreibens hat sich jetzt das entwickelt, was Sie vor sich sehen.

Das Gute an der Tatsache, dass dieser Blog werbefrei ist: Ich muss keinerlei Rücksicht nehmen, außer auf guten Geschmack und das Strafgesetzbuch. Letzteres auch nur eingeschränkt …. Ich kann also problemlos das Risiko einzugehen, Sie mit selbstreferentiellem Geschwafel zu langweilen und mir selber mal einen Moment der Blogreflexion und Standortbestimmung gönnen. Ich kann aber verstehen, wenn Sie schon längst weggeklickt haben. Ich selber kann ellenlange Selbstreflexionen, eitle Ego-Bespiegelungen und das klebrige öffentliche Auskehren innerer Befindlichkeiten und äußerer Beschränkungen auf den Tod nicht ausstehen. Ich würde niemals ein Buch auch nur anrühren, in der die Schreibblockade des Autors eine Rolle spielt, der Zustand seines Schreibtisches oder Versagensängste vor einer Lesung. Mich interessiert ja auch die Befindlichkeit meines Klempners nur peripher, ob er jetzt eine Installationsblockade hat oder Versagensängste vor dem Abflussrohr.

Insofern als Dank für die, die bis hier durchgehalten haben, ein Fundstück

Für alle Gourmets und Liebhaber von mehrgängigen Menüs, aus Berlin. Kein Wunder, dass bei den Preisen es die Jugend der Welt nach wie vor in diese Metrople zieht.

Und noch die Auflösung der Headline: Morgen um 18 Uhr gibt es eine große Verliererin. Dann werden die Wahlprognosen veröffentlicht und so schlecht können die Ergebnisse für die AfD, Freie Wähler und andere Nazis gar nicht werden, als dass die große Verliererin dieses Wahltages nicht jetzt schon feststünde: Die Demokratie.

06.10.2023 – Erntezeit

Schmerzmittel oder Scherzmittel? Es gibt kein Schmerzmittel mit weniger Nebenwirkungen. Eine lästige Nebenwirkung für Außenstehende: Bekiffte neigen zu absonderlichen Humorattacken und können stundenlang über Dinge lachen, deren Scherzgehalt sich dem Außenstehenden nicht entschlüsselt.

Ich frage mich, ob in dem Legalisierungsgesetzentwurf festgeschrieben ist, dass es sich bei der Obergrenze von 25 Gramm pro Person um getrocknetes Gras handelt. Immerhin macht der Trocknungsverlust 80 Prozent aus, also was bei der Ernte 150 Gram wiegt, entspricht am Ende 30 Gramm. Unter idealen Bedingungen, und die werden unter diesen rasanten Klimaveränderungen immer idealer (Komparativ von ideal? Nicht gerade ideal…) können von einer Pflanze schon mal über 500 Gramm gepflückt werden. Das entspräche einem Trockengewicht bei erlaubten drei Pflanzen von 300 Gramm und einem Marktwert von über 3000 Euro. Ob die Expertinnen das beim Entwurf mal durchgerechnet haben…? Die Ernte erfolgte unter dem Absingen traditioneller Volksweisen

Dicke Quitten. Auch die Quitten sind jetzt reif. Seit einem ikonischen Quittenbrand bin ich von der Quitte fasziniert. Dieser legendäre Quittenbrand, in einem unscheinbaren Wirtshaus vor vielen Jahren, ist für mich der Gral aller Obstbrände. Aber wie das mit der Suche nach dem heiligen Gral so ist: Man irrt jahrelang in der Welt umher, erfolglos, unter Mühen und Qualen. Positiv und Literaturtheoretisch gesehen ist die Gralsgeschichte eine Entwicklungsgeschichte, suchend zur Reife finden. Vom reinen Tor zum reifen Manne. Zum Gralshüter, wobei der Gral Erkenntnis ist. Siehe Parsifal. Im Schlussakt dieser Oper enthüllt Parsifal übrigens den Gral, nun sichtbar für alle, und als göttliches Zeichen der Erlösung schwebt eine weiße Taube hernieder. Ein schönes Bild: ich sitze als uralter Zecher in einem Wirtshaus und habe ihn endlich entdeckt, den heiligen Gral der Obstbrände, DEN Quittenbrand. Ich breche in Tränen aus, was Parsifal nicht gemacht hat, er ist ja nun erwachsen, coming of age. Und von der Decke des Wirtshauses schwebt eine weiße Taube hernieder. Dazu erklingen aus unsichtbaren Lautsprechern die schmelzenden Schlussakkorde von Wagners Parsifaloper. Die Taube macht allerdings den Fehler und scheißt mir auf den Kopf, worauf ich ihr den Hals umdrehe. Mein Leben ist schließlich keine Wagneroper.

Kaiserwinde. Sommerausklang.

Ich mag den Kitschpoeten der gehobenen Stände, Rilke, nicht. Aber das Folgende, passend zur Ernte, ist schön. Kein Hölderlin, aber nicht schlecht, und der Schluss ist mittlerweile Popkultur. Ich muss jetzt raus, die Stoppeln abbrennen…

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.

Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,

und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;

gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,

dränge sie zur Vollendung hin und jage

die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,

wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben

und wird in den Alleen hin und her

unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

04.10.2023 – Wahrscheinlich fehlt mir das Sieger-Gen

Blick ins Archiv, Politik & Kommunikation, das Blatt aus Berlin für Entscheider im politischen Sektor, 2013. Mittlerweile war auch das politische Berlin auf die Scherztruppe aus der norddeutschen Flachebene aufmerksam geworden und fragte etwas verwirrt nach, ob das nun ein Witz gewesen sei mit der Gründung der DGWS, Deutsche Gesellschaft für Witz und Scherz. Meine Antwort ist des politischen Sektors würdig, hinterher ist man in dieser Sache auch nicht viel schlauer. Da aber die Medien bei jeder SCHUPPEN 68-Aktion Bestandteil der Inszenierung sind, denn nur was medial stattfindet, hat real stattgefunden, überrascht das staatsmännisch präzise formulierte Nichtssagen nicht weiter. Wenn ich mir das ständig wachsende mediale Echo dieser Zeit auf die Aktionen anschaue, durchaus wohlwollend, teils mit Sympathisantinnen in den Redaktionen, ist es schon erstaunlich, wie wenig Kapital ich daraus geschlagen habe.

Wahrscheinlich fehlt mir das Sieger-Gen. Anders als, und damit sind wir mitten im politischen Berlin, wie es singt und lacht, das beim ehemaligen CDU-Bürgermeister Diepgen und seinem Spießgesellen, dem ehemaligen CDU-Fraktionsvorsitzenden Landowski der Fall war .

Beide kannten sich aus Zeiten in einer schlagenden Verbindung und so führten sie sich auch in Berlin auf: Zynisch, größenwahnsinnig, gierig, brutal, unfähig. Wer diese nackte, unverhüllte Fratze arroganter Macht bewundern will, schaue sich die faszinierende arte- Serie an „Capital B – wem gehört die Stadt?“

Wer verstehen will, wie Berlin nach der Wende zu dem geworden ist, was es ist, wer wissen will, wie Macht und Herrschaft im Kapitalismus funktioniert und warum als Konsequenz immer mehr Menschen sich von der Demokratie abwenden, der ist hier bestens aufgehoben und wird zusätzlich mit einmaligem Archivmaterial aus der Zeit atemberaubend unterhalten. Beim Anblick der Bilder der bürgerkriegsähnlichen Schlacht um die besetzten Häuser in der Mainzer Straße 1990 nach dem Sommer der Anarchie grenzt es an ein Wunder, dass es dabei keine Toten gab .

Alle Kriminellen der Erde, so auch die Diepgen-Landowski-Bande, vermuteten zu Recht im Berlin der Nachwendezeit eine Goldgrube mit gigantischem milliardenschwerem Inhalt. Bestechung, Mord und Totschlag regelten das, was das Parlament nicht immer willfährig zugestand. Der für Immobilien zuständige Referatsleiter Hanno Klein wurde mit einer Briefbombe ins Jenseits befördert.

Ein Mitarbeiter der Immobilien-Firma Aubis, zentraler Akteur der Berliner Bankenkrise, versuchte seine Chefs zu erpressen, arbeitete auch mit dem zuständigen Untersuchungsausschuss zusammen und wurde 2002 ermordet. Beide Male verliefen die Untersuchungen im Sande, obwohl zahlreiche Spuren noch nicht ausgewertet waren.

Verantwortlich für den Banken-Skandal, der Berlin in die finanzielle Schieflage brachte, die vor allem von der CDU permanent skandalisiert wird, war die Diepgen-Landowski-Bande von der Berliner CDU. Sie gründete 1994 die Bankgesellschaft Berlin AG, mehrheitlich im Besitz des Landes Berlin, um einen Finanz-Big Player in Berlin zu haben. Der Steuerzahler haftete für sämtliche Risiken der größenwahnsinnig und bar jeden Sachverstandes investierenden Volltrottel AG. Außerdem legte sie riesige Immobilienfonds mit risikofreien gigantischen Renditen für alle Mitglieder und Bekannten der Diepgen-Landowski-Bande auf. Damit das alles mit rechten, also kriminellen, Mitteln zuging, wurde Landowski als Vorstandsmitglied der Bankgesellschaft installiert. Obwohl er Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses war. Das ist so, als ob man den Wolf zum Hütehund für die Schafherde macht. Darüber hinaus ließen sich Diepgen und Landwoski derart dreist bestechen, dass es sogar auffiel, was in Deutschland selten vorkommt. Die Ermittlungen verliefen im Sande, bis auf ein paar lächerliche Verurteilungen mit Bewährung.

Die SPD hat übrigens munter in dieser Betonmafia mitgemischt. Und genau diese alten CDU-SPD-Seilschaften sind jetzt wieder an der Regierung und verhindern die Umsetzung des erfolgreichen Volksbegehrens auf Enteignung großer Immobilienkonzerne.

Wenn Sie, liebe Leserinnen, also einige Gründe kennenlernen wollen, warum sich immer mehr Menschen von der Demokratie abwenden, schauen Sie sich Capital B (das Wortspiel ist beabsichtigt) an, Sie werden auf hohem Niveau bestens unterhalten.

Und obwohl dieser irrsinnige Geist des Sommers der Anarchie, der Straßenkämpfe, der scheinbar grenzenlosen Freiheit und Kreativität, der kriminellen Ausübung von Macht und Herrschaft im Kapitalismus, verflogen oder unsichtbarer geworden ist, umweht die Steine von Capital B und die Menschen dort immer noch ein Hauch jener Aura, die Berlin so einmalig macht. Wer Sinne hat, das wahrzunehmen, spürt das. Das ist wie eine Transzendenzerfahrung in einer riesigen Kathedrale. Dafür muss man nicht glauben, die Transzendenz ist da.

03.10.2023 – Tag der Deutschen Einheit

Blick ins Archiv, Hallo Sonntag, 23.12.2012: „Auf Betreiben der populären Künstlervereinigung SCHUPPEN 68 hat sich Mitte Dezember in Hannover die Deutsche Gesellschaft für Witz und Scherz gegründet.“ Ich warte heute noch darauf, dass mal irgendein Stadtbüttel bei mir mit einem riesigen Präsentkorb vorbeikommt und sich dafür bedankt, dass es maßgeblich mein Wirken war, welches Hannover vom Odium der grauen Maus befreit und diesen trostlosen Trübsinnsfleck in der norddeutschen Tiefebene zu einem Zentrum des Frohsinns gemacht hat.

An den Formulierungen in den medialen Archiv-Beispielen der letzten Zeit können des Lesens kundige Leserinnen erkennen, dass sich in einigen Redaktionsstuben langsam ein Kern von SCHUPPEN 68-Sympathisantinnen kristallisierte.  Das Seminar „Peer Steinrück als Kandidat – der Witz in der aktuellen Politik am exemplarischen Fall“ ist übrigens Kult. Peer Steinbrück? Who? Ehemaliger Kanzlerkandidat der SPD

Liest man die Liste seiner Tätigkeiten, kriegt man das Kotzen. Korrupt bis auf die Knochen. Und als Finanzminister dafür verantwortlich, dass Staat und Gesellschaft im Zusammenhang mit Cum-Ex Geschäften um Milliarden ausgeraubt wurden.

Im Jahr 2007 übernahm sein Finanzministerium für das Steuergesetz einen von der Banken- und Beraterlobby verfassten Gesetzestext „eins zu eins, ohne dass ein Komma geändert wurde“. Dadurch konnten Cum-Ex-Geschäfte in das Ausland verlagert werden und erreichten dann 2010 ihren Höhepunkt, wodurch Milliarden Euro an Steuergeldern in privaten Taschen verschwunden sind.

Der dafür federführende Staatsekretär Jörg Asmussen ist seit Oktober 2020 Hauptgeschäftsführer und geschäftsführendes Präsidiumsmitglied des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft und kassiert dafür ein Millionensalär.

Der Unterschied zu einer kriminellen Organisation im Sine des § 129 StGB liegt bei Beiden darin, dass sie ehrenwerte Mitglieder einer ehrenwerten Partei sind, nicht von der Polizei gejagt werden und der von ihnen verantwortete Schaden an der Gesellschaft um ein Vielfaches größer ist als bei allen bekannten hiesigen kriminellen Vereinigungen. Ich kriege immer Lachanfälle, wenn ich in der Bürgerpresse lese: „Schwerer Schlag gegen organisierte Kriminalität – Rauschgiftbande zerschlagen und 5 kg Marihuana beschlagnahmt.“ Lächerliche paar 1000 Euro.

Ich warte auf den Tag mit Enthüllungsberichten über die Steinbrück/Asmussen-Bande. Aber da kommt eher der Stadtbüttel mit dem Präsentkorb bei mir vorbei.

Wer kann sich an Steinbrück noch erinnern… Überhaupt das Erinnern. Im letzten Blog habe ich die Bezeichnung „Bonner Ultras“ verwendet. Von der Generation U50 kann damit vermutlich niemand was anfangen. Und wer kann sich schon noch an Ernst Neger aus dem gleichen Blogeintrag erinnern. Dabei hat Neger uns unvergessliche Momente beschert, z. B. mit seinem Karnevalslied „Humba humba DDR“ , hier im s/w Video von 1966

Ich habe noch nie ein derart entfesseltes Publikum gesehen, das so weit jenseits der ihm zugeschriebenen Verhaltensweisen agiert, wie in dem Video. Das geballte damalige BRD-Spießertum tobte nur nach diesem Lied über eine Stunde. Ich kann mir das nur so erklären, dass ein als Kellner getarnter Hippie LSD in die Weinflaschen gemixt hat. LSD ruft Halluzinationen, Euphorie, Veränderung der Raum-Zeit-Wahrnehmung hervor und führt letztlich zur Auflösung des Ich-Bewusstseins.

Deutsche Entwicklungshelfer mussten in Afrika Einheimische darüber aufklären, dass das Lied im Video nicht der Titel für die deutsche Nationalhymne ist.

Der Refrain des Liedes, entscheidend für den Erfolg, ist übrigens 1:1 geklaut beim Weltjugendlied von Anatoli Grigorjewitsch Nowikow aus dem Jahr 1947 (ab 0.35 hier)

02.10.2023 – Dafür gebührt mir Euer aller Dank

BILD

Blick ins Archiv enthüllt: Ich habe den Weltrekord für den kürzesten Karnevalsumzug nach Hannover geholt. Bürgerinnen dieser Stadt, dafür gebührt mir laut Presse Euer aller Dank.

Cool! Na ja, cool ist in meinen Augen Humphrey Bogart. Aber es zählt, was die Medien schreiben, also bin ich cool. Richtig cool allerdings werde ich sein, wenn meine Absicht klappt, den Weltrekord für den kürzesten Karnevalsumzug der Welt nach Berlin zu holen. Da bin ich im Vorfeld des närrischen Treibens bei einer Konferenz der Hans-Böckler-Stiftung zum Thema Umverteilung und werde als Entspannungsübung die Aktion vor den Resten der Berliner Mauer wiederholen.

Die Konferenz findet am 9.11 statt und das ist nun wirklich der närrischste Tag der deutschen Geschichte überhaupt. Was da alles stattfand an einem 9. November: Bekannt ist die Novemberrevolution, der Höhepunkt der Novemberpogrome 1938 und der konterrevolutionäre Putsch reaktionärer ostzonaler Elemente, gesteuert von Bonner Ultras und der CIA. O. k., in der offiziellen Geschichtsschreibung hat sich der Begriff „Fall der Mauer“ durchgesetzt, aber Mainstream war noch nie mein Ding.

Weniger bekannte Ereignisse: 9. November 1923 – Hitler-Ludendorff-Putsch in München und 9. November 1969 – Die linksextremistische Terrororganisation Tupamaros West-Berlin platziert eine Bombe im Jüdischen Gemeindehaus in Berlin. Die Bombe explodiert jedoch nicht.

Merken Sie was, liebe Leserinnen? Von wegen Kontinuitäten und Strukturen? Man sagt gemein hin, und das ist bewusst falsch, also richtig, so geschrieben, der 9. November sei der Schicksalstag der Doitschen.

Ich werde versuchen, für die Pappnasen-Aktion vor den Resten des antifaschistischen Schutzwalles eine Büttenrede zu schreiben, die all diese Ereignisse verbindet. So in der Art, mal Poetryslammässig improvisiert:

Do you remember,

die Revolution am 9. November?

Und weiter im Kalender,

ganz ohne gender,

weil des tät jetzt nix änder,

trifft man den Hitlerputsch,

10 Jahre später war Weimar dann endgültig futsch.

Usw. usf.

Echt cool, oder?

Und nun heraus zum 3. Oktober, dem Einheinztag, unter dem Motto: Feuer und Flamme für Deutschland, Tusch und Narhalla Marsch. Mit Ernst Neger

30.09.2023 – Zum Tag des Butterbrotes und der deutschen Einheit

Es hätte mich auch gewundert, wenn ich dazu nichts gemacht hätte. Heute würde ich statt Sloterdjik Welzer angefragt haben, aber im Großen und Ganzen würde ich es ähnlich wieder machen. Zur Zeit allerdings treibt mich anderes um. Demnächst sind Wahlen in Bayern und Hessen. Dauerkiffer Elon Musk ruft zur Wahl der AfD auf. Ein Beispiel dafür, dass auf jeder Tüte Marihuana unbedingt auf die Nebenwirkungen und Risiken des Dauergebrauchs hingewiesen werden sollte: „Achtung! Chronisches Kiffen macht blöd!“ Eine Ansicht, die auch schon die Popikone und der Papst des Drogengebrauchs William S. Burroughs, vertreten hat, in Naked Lunch. Und der wusste wovon er redete. Es gab Nichts, was er nicht ausprobiert hat, mit der Folge, dass er noch jenseits der 70 in einem Methadonprogramm war.

Das hatten wir schon mal, dass sich das Kapital zur Machtübernahme von Faschisten einsetzte. Die Industrielleneingabe war ein von neunzehn oder zwanzig Vertretern der Industrie, der Finanzwirtschaft und der Landwirtschaft unterzeichneter Brief, der am 19. November 1932 an den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg gerichtet wurde mit der Aufforderung, Adolf Hitler zum Reichskanzler zu ernennen.

Nun ist Musk nicht „das“ Kapital. Das zerfällt, um linken Verschwörungsphantasien vorzubeugen, in zahllose, völlig unterschiedliche Fraktionen, die nur eins eint: Grenzenlose Gier und Profitinteresse, koste es, was es wolle, und sei es der eigene Untergang, dafür paktieren sie auch mit dem Teufel, der dann ihre Seele holt. Heute kann man, ergänzend zu diesem Marxschen Diktum, hinzufügen: „Sei es der eigene Untergang und der der Gattung Mensch auf dem Planeten.“ Ob letzteres ein Verlust wäre, sei dahingestellt.

Auch ist die AfD natürlich nicht die NSDAP und Björn Höcke nicht Adolf Hitler, obwohl er sich alle Mühe gibt. Aber ein Blick in die Geschichte lohnt schon, um strukturelle Entwicklungen und deren Perspektiven besser einzuschätzen. Die NSDAP ist unter anderem deshalb an die Macht gekommen, demokratisch übrigens, in einer Koalition mit den willigen Idioten von der DNVP ,  weil sie den Kampf um die kulturelle Hegemonie in der Weimarer Republik gewonnen hatte, in Verbindung natürlich mit mörderischem Straßenterror. Die Mehrheit der Bevölkerung war damals der Meinung, dass die eigene Nation über alles gelte, und rein zu halten sei von allem Fremden, dass sie selber ständig zu kurz kämen, das Parlament eine Schwatzbude sei, der Jude an allem schuld, Berlin ein Sündenpfuhl, ein Führer her müsse, der mit eisernem Besen die alten Eliten auskehren solle, dass das Recht des Stärkeren gelte usw. usf.

Früher galt in der BRD der Grundsatz: Weimar kann sich nicht wiederholen, dazu ist die Demokratie zu fest verankert in der Gesellschaft. Dieses Argument habe ich in letzter Zeit kaum noch gehört. Kein Wunder, angesichts der Tatsache, dass sich binnen kurzer Zeit manifest rechtsextreme Einstellungen hierzulande vervielfacht haben.

Sie, liebe Leserinnen, werden jetzt dagegenhalten: Ja, aber unsere Zivilgesellschaft…?

Was glauben Sie wohl, was passieren wird, wenn in irgendeinem Thüringen eine AfD/CDU Koalition die Regierung übernimmt? Als erstes, siehe Kulturkampf, wird die Förderlandschaft komplett umgestellt. Keine fortschrittlichen, solidarischen Projekte mehr, keine liberale, offene, diverse Kultur mehr.

Da sehe ich schon die NGOs im Lande, Verbände, Organisationen, Projekte etc., also alle, die mehr oder weniger von staatlichen Fördermitteln abhängen, umfallen wie Dominosteine und einen nach dem anderen katzbuckeln in den zuständigen Ministerien. Woher ich das so genau weiß? Weil ich mal in ein Geschichtsbuch geguckt habe. Und die Zivilgesellschaft kenne. Von innen her und ziemlich gut. Dazu demnächst mehr.  

Ich hoffe, Sie haben einen angenehmen Tag des Butterbrotes hinter sich und einen sonnigen Tag der Einheit vor sich.

27.09.2023 – Verfall der Gesellschaft

Brücke Nieschlagstr., Hannover

Bahntrasse unter der Brücke

Die Brücke ist seit vielen Jahren marode, mittlerweile derart vom Verfall bedroht, dass sie im Vorfeld von Umbauarbeiten gesperrt wurde. Auch die Bürgersteige sind mit Metallpfosten versehen, weil die Verantwortlichen völlig zu Recht davon ausgehen, dass asoziale Autofahrer einfach darüber brettern würden, trotz der Tatsache, dass sich an einem Ende eine Kita befindet. Die Infrastruktur im Lande ist seit Jahrzehnten derart kaputtgespart worden, in allen Bereichen von Schule über Verkehr bis Gesundheit, auf allen Ebenen vom Personal bis zu Gebäuden und Wegen, dass der Verfall anfängt, langsam lebensbedrohlich zu werden. Wer mal in Großkliniken wie einer MHH unterwegs war, dem kommen Kafkas Erzählungen von der Monstrosität der Moderne vergleichsweise vor wie idyllische Geschichten aus Bullerbü.

Am Geld hat es nicht gelegen. Die Steuereinnahmen haben sich in den letzten 15 Jahren fast verdoppelt. Wo ist das Geld geblieben, wenn es nicht investiert wurde? Die privaten Vermögen haben sich in den letzten 15 Jahren ebenfalls fast verdoppelt. Diese Vermögen konzentrieren sich in den Händen von Wenigen, mehr als 3000 Superreiche besitzen in Deutschland ein Fünftel des Privatvermögens.

Staat und Gesellschaft sind also in den letzten Jahren systematisch ausgeplündert worden zugunsten von Wenigen, zulasten der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung und zulasten der Infrastruktur. Wenn wir über Werte-Verfall, Verrohung der Gesellschaft, Faschisierung reden, dürfen wir vom Verfall der Infrastruktur, vom Raubzug der Wenigen zulasten der Vielen nicht schweigen. Dieses Reden wird nicht viel ändern, aber es ist eine Frage der intellektuellen und ethischen Redlichkeit, es nicht zu unterlassen.

Es ist angenehm, über die Brücke oben zu gehen, keine Autos, kein Lärm, keine Anspannung, wenigstens auf ein paar Metern. Paradiesische Zustände wie in Holland, wo man die Innenstädte der größeren Städte im Zweifel meist völlig stressfrei flanieren kann. Na ja, bis auf die Räder…. Der Blick auf die stillgelegte Bahntrasse, da fuhr früher eine alte Kohlebahn vom Hafen zum nahen Heinzkraftwerk, lässt mich immer stutzen. Ich habe da früher selber wilde Himbeeren, Brombeeren, Holunder gepflückt und immer waren Kinder da unterwegs, ideales Gelände für allerlei Spiele (Ein monströs zwielichtiger Satz, fällt mir beim Nachlesen auf. Ich lass ihn trotzdem so.) Das findet seit Jahren nicht mehr statt, die Bahntrasse ist fast undurchdringlich zugewuchert. Ich würde das nicht als Verfallssymptom sehen, nach der Zivilisationskritik-Leier weißer, alter Männer: Die gucken nur noch auf ihr Handy statt sich auch mal zu prügeln. Aber komisch ist das schon. Was machen die Kids so heutzutage? Ich zumindest hab keine Ahnung.

Ich halte mich an das, was ich weiß, an Fakten und Daten. Ein Datum lacht mich vom Kalender an: Der Tag der doitschen Einheit steht vor der Tür. Wolle mer ne roilasse? Wenn’s nach mir geht, Tür zu, Schlüssel abziehen und ins Meer. Dieser Tag erweckt das, was immer nur ungut wiederkehrt, nämlich Nationalitätsduselei, und verkleistert das, was Tatsache ist: Dass das Land immer tiefer gespalten ist, und zwar zwischen Arm und Reich. Dass es eine Einheit nicht geben kann mit denen, die die ohnehin schon Schwachen schamlos immer weiter ausplündern.

Und ja, es gibt auch eine nach wie vor existierende Spaltung zwischen Ost und West, an die so ein Feiertag erinnern könnte, aber das würde ich konsequenterweise eher Spaltung zwischen Anständigen und Unanständigen nennen. Und die gibt es auch in Nord und Süd.