09.05.2023 – Werde ich langsam ein Prepper?

Reiher. Vorne donnern täglich über 20.000 Autos an meinem Fenster vorbei, hinten im Garten werde ich öfter Zeuge von Naturschauspielen, die man eher in freier Wildbahn vermutet. Unlängst machte ein Mäusebussard Jagd, zu Fuß, das bekommen selbst Feld-, Wald- und Wiesenschrate selten mit. Die Geschichte vom Eichhörnchen, das mir in der Küche die Pantoffeln anknabberte (in denen die Füße noch steckten), ist hier nachsehbar . Mitunter begegnen sich Bussard und Eichkater auch im Garten, was für letzteren eher nicht gut ausgeht.

Obiger Reiher wurde unlängst von zwei Krähen attackiert, vermutlich weil er ihrem Nest zu nahekam. Krähen gehen, immer wohlkoordiniert zu zweit, selbst auf Raubvögel los. Der Reiher jedenfalls machte leicht konsterniert kurz Pause auf Nachbar Pauls Carport. Ein schöner Anblick, würdevoll-gravitätisch, aber doch beschwingt-elegant. Kein ganz seltener Anblick in der Unwirtlichkeit der Dachpfannen, der Reiher ist Kulturfolger und hat auch schon den Teich im hinteren Teil des Gartens leergeräubert.

Ich zählte in meinem Teich die Gründlinge nach, die, meist unten am Boden, für Klarschiff sorgen und den Teich zu einem selbstregulierenden Biotop machen. Alle drei noch vorhanden. Neulich tanzten zwei von ihnen wild umeinander und einer war am Bauch rötlich gefärbt. Vermutlich der sogenannte Laichausschlag, den Karpfenfische, und dazu gehört der Gründling, in der Laich haben. Ob der eventuelle Nachwuchs sich hier auf Dauer etabliert, bezweifle ich angesichts der geringen Teichgröße. Den werden die Eltern verfrühstücken. Der Gründling soll ein wohlschmeckender Speisefisch sein, gerne auch paniert. Was für eine Arbeit, die Viecher werden gerade 10 cm lang.

Aber natürlich spielt auch der Gründling in meinen Gedanken zur Autarkie eine Rolle. Mittlerweile prangen hier Kohlrabi, Zucchini, Tomaten, Paprika, Sellerie, Himbär. Im Krisennotfall könnte ich mit Pfeil und Bogen Eichhörnchen erlegen und Vogelnester leeren. Zusammen mit den Gründlingen bildet das eine gute Basis für ausgewogene Ernährung. Von mir aus können Ebola, Westnil, Vogelgrippe kommen, ich bin prepared.

Inwieweit das Ganze ernst gemeint ist, überlasse ich Ihrer Phantasie, liebe Leserinnen, welche ja eine der schönsten Gaben der Evolution ist. Die Tatsache, dass sowas überhaupt hier Thema ist, hat natürlich mit der Zeitenwende im Rahmen der Polykrisen zu tun. Spätestens seit Corona ist intensive Vorratshaltung ein Thema und die Gilde der Prepper, vorher als Spinner belächelt, sieht sich aufs Schönste bestätigt. Prepper, von prepared = vorbereitet, streben nach Autarkie in Krisenfällen und legen riesige Vorräte an, von Klopapier (Sie erinnern sich?) über eingelegtes Gemüse bis Trockenfisch und Notstromaggregate, Waffen, etc. pp. Überlappungen mit rechtsextremem Gedankengut dürften auf Grund der Staatsskepsis dieser Klientel nicht zufällig sein. Es gibt natürlich auch ideologisch anders fundierte Skepsis gegenüber dem Staat, der Freiheitsdrang der Hippies drängte sie aufs Land, in Kommunen, und natürlich hat jeder Altlinke mit dem Staat sowieso nix am Hut.

Alle drei Ideologieströme bringt Pop-Prosa auf einen Nenner. In der Woodstock (!) Version von  „Going up the Country“ von Canned Heat heißt es:

Now baby, pack your leaving trunk, you know we’ve got to leave today

Just exactly where we’re going I cannot say

But we might even leave the U.S.A.

‚Cause there’s a brand new game that I wanna play.

Und ich frage mich jetzt: Werde ich langsam zum Prepper? Wahrscheinlich schützt mich meine mangelnde Staatsskepsis davor. Nicht erst seit den Polykrisen halte ich den bürgerlichen Staat, bei aller notwendigen radikalen Kritik, für die letzte Brandmauer vor der Barbarei.

Und jetzt muss ich wieder Gemüse gießen. Sowas immer im Morgentau, niemals abends, da ist der Boden von der Sonne des Tages zu ausgedörrt.

Fröhliche Krisen, liebe Leserinnen.

08.05.2023 – Über das Phänomen der ruckartig sich umdrehenden Köpfe

Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil beim Jahresempfang des Katholischen Büros, der Lobbyvertretung der katholischen Kirche im parlamentarischen Raum. Kein Ministerpräsident, egal in welchem Bundesland, würde es sich nehmen lassen, das Grußwort bei dieser Gelegenheit zu sprechen, und zwar jedes Jahr. Bedeutungsverlust der Kirchen in säkularen Zeiten hin oder her, sie haben nach wie riesigen Einfluss und Gestaltungsmacht und sind zentrale Akteure nicht nur in der Sozialpolitik. Ihre Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie mit Kitas, Heimen, Krankenhäusern, Beratungen etc. pp.  sind die größten Arbeitgeber im Land. Die personellen Verbindungen, materiellen Interessen und ideologischen Übereinstimmungen der Eliten der Gesellschaft von Kirche und Staat gehören nach wie vor zu den Fundamenten der Demokratie. Vor aller berechtigten Kritik daran gehört die Kenntnis dieser Zusammenhänge zum Grundwissen von Demokratietheorie, politischer Theorie schlechthin.

Und so ist es professionelle Notwendigkeit für sozialpolitische Akteure, bei solchen Anlässen Flagge zu zeigen, sich den Arsch breit zu sitzen, beim Büffet die Ellbogen auszufahren (katholische Büffets sind die besten, das diesbezügliche ungenießbare Grauen obwaltet bei Gewerkschaften) und mit befreundeten Anwesenden über den Rest der Gesellschaft zu lästern. Man nennt das Netzwerken.

Hier werden eher selten direkte Entscheidungen getroffen, dafür sind nach 22 Uhr einige Protagonisten zu besoffen, die Alkoholismus-Quote unter Parlamentarier*innen, und im vorliegenden Fall in der katholischen Kirche, dürfte überdurchschnittliche hoch sein. Hier wird nicht geerntet, sondern eher die zarte Saat ausgesät.

Außerdem ist das hochinteressanter soziologischer Anschauungsunterricht über den Habitus unserer Eliten, zumindest für jemanden wie mich, der nicht dazu gehört: wie reden die, welches kulturelle Setting herrscht da vor, was ziehen die an., etc. pp.  Soziologie des Alltags, die mehr Erkenntnis vermittelt als Bände voller Ideologiekritik und schlaue Zeitungslektüre.

Es gibt neben Grußworten bei sowas auch immer eine Art kulturelles Rahmenprogramm, z. B. Festvorträge von Ex-Süddeutsche Heribert Prantl, in der rebellischen Version Richard David Precht und in frauenbewegten Zusammenhängen von Alice Schwarzer, wobei die letzteren jetzt eher weniger gefragt werden, weil sie einen Tick zu weit weg vom bellizistischen Mainstream sind. Sowas bedeutet mitunter nennenswerte materielle Einbußen, die Honorare bei den Elitenverbänden für solche Jobs betragen mehrere tausend Euro. Pro Abend, nicht im Jahr. Precht und Schwarzer werden es überleben.

Michael Berger und Bettina Tietjen beim Empfang des Katholischen Büros im, so der offizielle Titel: „Gespräch über Gott und die Welt“. Michael Berger war Leiter der landespolitischen Redaktion der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und Bettina Tietjen ist Talkshowmasterin des NDR. Berger ist noch nie auch nur durch den Hauch eines kritischen oder gar originellen Gedankens aufgefallen, er oszilliert zwischen gediegenem sakkogestützen Konservatismus und Alter-Sack-Reaktionär. Einlassung beim Empfang: „Die heutige politische Korrektheitspolizei (Gendersprache, ick hör dir trapsen, d. A.) erinnert mich an die DDR und Stasi 2.0“

Tietjen moderiert in ebenso unorigineller, unkritischer und völlig überdrehter Schwatzhaftigkeit kumpelhaft alles weg, was ihr vor die Mikrofone kommt. Eher ist ein Tsunami mit einer Schöpfkelle aufzuhalten als ihr Sprechdurchfall. Eitel und kokett ihre Einlassung: „Huch, ich rede schon wieder so viel. Soll ich eine Pause machen oder aufhören?“

Kurz, leider nicht halblaut, eher vernehmlich die meinige dazu: „Ja bitte, es wäre eine Erlösung“.

Das Phänomen der ruckartig sich umdrehenden Köpfe kenne ich schon.

Es wurde trotzdem noch ein schöner Abend. Ich musste nur drauf achten, meinem befreundeten Nachbarn ab und zu den Ellbogen die Rippen zu rammen. Der zieht bei sowas immer die Notwehrkarte und pennt regelmäßig ein. Wir haben ein Agreement: Wenn er anfängt zu schnarchen, gibt’s den Ellbogen. Dafür holt er unseren ersten Wein vom Büffet.

06.05.2023 – Verheerende Folgen des Elektrogrillens.

Aus dem Magazin für Gourmets „Grillen ohne Stecker & Kabel“, aus dem Hause Hermann Sievers & Thomas Kupas , 2023, Auflage 2 Stück. Es geht darin um den Beef zwischen Sievers & Gleitze in Sachen Grill: Holzgrill vs. Elektrogrill. Ich bin überzeugter Elektrogriller, bei mir kommt der Strom aus der Dose, und wenn es regnet, der Grill in die Küche. Freund & Kollege Sievers, bekennender Gourmet, gehört der Fraktion der Holzgriller an, gerne auch mit Aromen von Olivenkernen und Eiche. Das Verhältnis der Grillfraktionen zueinander ähnelt dem der K-Gruppen in den 70ern, Todfeinde, wie Hund & Katze, Auto & Fahrrad, Ehe & Partner, da gibt es keine Kompromisse, nur Krieg.

Nach dem Erscheinen des Magazins, demnächst auch an Ihrem Kiosk, liegen die Vorteile beim Hause Sievers. Es ist eine überzeugende Philippika wider das Elektrogrillen. Das Foto spricht Bände, schrecklicher können Humanoide nicht verunstaltet sein. Das Foto wurde beim Bürgerfunk Radio Flora  aufgenommen, wo wir jahrelang live on air ein monatliches Satiremagazin produzierten. Die Hälfte unseres damaligen Teams ist tot oder verschollen und als uns irgendwann zu Recht weniger als niemand mehr zuhörte, wandten wir uns anderen Dingen zu. Es war eins meiner klassischen Projekte: Wenig Ehre, kaum Ruhm und Null Kohle. Falls irgendjemand Folgen dieses Satire-Magazins in Umlauf bringt, werde ich die Konsequenzen wie einen Unfall aussehen lassen.

Zwei Dinge sind auf dem Bild, neben dem Aussehen der Protagonisten, schwer verstörend: Bier aus der Flasche ist ein vollkommenes No-Go für Menschen von Niveau und Gegenstände in Nationalfarben am Körper ist ein Verbrechen gegen die Menschheit. Es dürfte sich bei den Hüten um Paraphenalia einer Fußballmeisterschaft handeln, Artikel, die nach dem in den letzten Jahren oftmalig frühzeitigen Ausscheiden der Ostgoten bei WMen oder EMen am nächsten Tag wie Blei in der Regalen liegen, selbst für paar Cents verschmäht. Allein die Existenz von Fußball ist eine Todsünde wider den guten Geschmack, erst recht sind es seine Fans und vor allem ist es alles, was in vaterländische Farben, Flaggen, Hüte etc. gewandet ist.

„Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben.“ So heißt es zu Recht im Kommunistischen Manifest .

Wir sind qua genetischer Lotterie in die Welt geworfen, über Leben & Tod, Wohlstand & Elend, Geschlecht & Gesundheit entscheidet zu großen Teilen die willkürliche Roulettekugel unserer Geburt. BRD oder Sudan, eine Laune des Schicksals. Und dass uns das liebe Vaterland, die Nation als das Maß aller Dinge eingetrichtert wurde, für das es sogar süß sei, das Leben zu geben, ist eine kranke Narretei aus dem 19. Jahrhundert. Eine Missgeburt der Moderne, im Interesse der Bourgeoisie, zum mörderischen Wahn gesteigert bei den Nazis. Und findet zunehmend Widergeburten in allen Staaten der Welt, so sie nicht am Zerfallen sind. Beispiele vor der Haustür der völkische Wahn in den Staaten im Osten und Südosten Europas, mühselig und nicht immer erfolgreich vom Dauerkrieg nur abgehalten durch die Knute der EU, in der das Kapital keine Störung des Betriebs durch Krieg duldet.

Lieber hätte ich den Bildband meiner gesammelten Aknepickel veröffentlicht, aber das obige Foto ist einfach zu schön, um es der Welt vorzuenthalten.

Bitte, gern geschehen.

04.05.2023 – Gehen Sie mal mit einer Kippa durch Neukölln

Columbiahalle, Kreuzberg Ecke Tempelhof. Ikonische Schönheit der Fünfziger. Vor sowas könnte ich stundenlang verweilen, ein Profanbau mit sakraler Aura. Diese Komposition aus üppig geschwungenen Rundungen des Gebäudekorpus und der nüchternen Winkligkeit des Eingangs ist ein rarer Glücksfall für Ästheten. Auch das eine metropole Kathedrale. Was da sonst so in Berlin aktuell oft gebaut wird, ist eine gesichtslose, austauschbare Schande, getrimmt auf Effizienz und Funktionalität und zerstört mittelfristig den Charme der Hauptstadt mit ihrer dezentralen Vielfalt und Diversität. Allein der Rundblick im Ankommen am Hauptbahnhof ist ein deprimierender auf lauter 08/15 Einheits-Quader, wäre da nicht die Sichtachse auf Reichstag, Kanzleramt und Schweizer Botschaft.
Aber die Kritik am Städtebau ist bekannt, da haben schon Kompetentere als ich was zu geschrieben. Kritik: Zu meiner Kritik an der DGB-Latschdemo der Generation „Hackenporsche“ am 1. Mai gebührt der Wahrheit die Ehre zu geben und zu erwähnen, dass ich selber dieser Generation angehöre und nicht nur seit Jahrzehnten kaum eine DGB-1. Mai-Latschdemo versäumt, sondern vielmehr mehrfach als Mairedner zumindest in kleineren Städten in Niedersachsen versucht habe, die proletarischen Massen zum Klassenkampf zu agitieren. Was nie erfolgreich, aber mir stets ein Vergnügen war. Und Erkenntnis, wurde ich doch so agierender, eingreifender Zeitzeuge der absterbenden letzten Rituale der Arbeiter*innenbewegung, ohne die die Republik nicht das wäre, was sie ist im positiven Sinn. Und den hat sie bei aller Kritik. Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, 5-Tage Woche, demnächst 4, existenzsichernde Löhne zumindest für den Großteil der Tarifbeschäftigten, Ansätze von Gleichberechtigung usw. usf., ohne die Existenz von Gewerkschaften wäre unsere Gesellschaft ein Ort schrankenloser Ausbeutung durch das Kapital.
Insofern ist der aktuelle Bedeutungs- und Funktionsverfall der Gewerkschaften, der sich in der, von mir polemisch sur le point gegarten, Überalterung ihrer aktiven Klientel nur unzureichend widerspiegelt, eine höchst bedenkliche und radikal zu kritisierende Zeiterscheinung. 30 Prozent Mitglieder weniger in den letzten 20 Jahren.

Bei der evangelischen Kirche übrigens ähnlich, etwas weniger bei den Katholiken, allerdings mit wachsender Tendenz. Zugenommen hat migrationsbedingt die Zahl der Muslime und der Orthodoxen. Dass diese wachsende Diversität einen Beitrag zu mehr Fortschritt und Emanzipation in unserer Gesellschaft geleistet hat, kann allerdings nur behaupten, wer mit einer rosaroten Brille in einer Welt vor 30 Jahren lebt. Oder in einem Schickimickiviertel mit einem drastisch unterdurchschnittlichen und nicht repräsentativen Migrationsanteil. Gehen Sie mal mit einer Kippa durch Neukölln, dann werden Sie verstehen, was ich meine. Oder predigen Orthodoxen Gleichberechtigung von Frauen, Minderheiten, LGBTQ … Mit der Diversitätskultur ist das eben so eine Sache. Auch diese muss einer radikalen und offenen Kritik unterzogen werden, verhindert sie doch in ihrer ausufernden und ausgedehnten Beliebigkeit des „Jede ist eine Benachteiligte“ kollektive Gegenwehr gegen einen klar konturierten Gegner, das Kapital. Wohingegen die Diversitätsapostelinnen hinter jeder Ecke und Äußerung Diskriminierung wittern. Aber wo alles möglich ist, ist letztlich nichts mehr greifbar.
Soweit zur Konkretion der Kritik. Grundsätzlich ist die edelste und radikalste Form der Kritik, und der Reflexion, die Selbstkritik und Selbstreflexion. Durch die scharfen Konturen der radikalen Kritik der Verhältnisse, und die Kritik kann nur radikal sein, denn die Verhältnisse sind es, die radikal sind, sollte immer die eigene Position schimmern, wie die Morgenröte im Tau des beginnenden Tages. Mehr Poesie krieg ich heute nicht in die Tasten gezimmert. Ende Gelände erstmal. Profanes zum Schluss: In der Columbiahale habe ich mal UB40 gehört. Glaube ich. Es waren die Achtziger …Von den Gruppen, die da heute auftreten, kenne ich nicht eine einzige mit Namen.

02.05.2023 – Ein Kessel Buntes?

1. Mai Transpi, Rosa Luxemburg.

Bewegung, Veränderung ist Leben. Alles fließt. Panta rhei. Wer sich verändert, bewegt, spürt sich selbst, seine Grenzen und die Kühnen überschreiten sie. Heuer war meine Teilnahme an den Kreuzberger Maifestspielen umständehalber verhindert. rbb sendete  abends live Impressionen vom 1. Maigeschehen in Berlin, insgesamt waren 31 Veranstaltungen angemeldet, in Kreuzberg praktisch eine an jedem Späti, eine skurriler als die andere. Die traditionelle DGB-Latschdemo mit ein paar 1000 TN der Generation „Hackenporsche“ und aufwärts, die bundesweit mit Lustgrusel beäugte revolutionäre Maidemo mit 25.000 TN und mein Favorit mygruni mit 7 – 8.000, so genau kann das niemand sagen. Gerade bei den Revoluzzern sind die Grenzen fließend zu neugierigen Touris, oft Testosterongesteuerte Radaubrüder, die für die meiste Gewalt verantwortlich waren in den letzten Jahren. Womit ich keineswegs politisch motivierte Übergriffe negieren will, die sind aber mittlerweile die Ausnahme und verteilen sich in Berlin übers Jahr.

Mygruni zieht seit ein paar Jahren durch das Villenviertel Grunewald und wollte heuer da mit einem Kohlebagger die dortige Kohle abbaggern. Der Protest, da wo er hingehört, mit Satire und Ironie, mein Style. Die revolutionären Demos sind oft sehr unübersichtlich, Repressionsapparat und Revoluzzer laufen kreuz und quer durch einander, die Polizistinnen sind frustriert, weil sie nicht genau wissen, wann sie auf wen einknüppeln sollen, könnten ja auch Touris sein, oder Journalistinnen. Es ist so wie das Spiel „Packen“ früher auf dem Schulhof. Über das DGB Trauerspiel decken wir lieber die Rheumadecke der Verschwiegenheit und berechtigterweise spielte die in der lokalen TV-Berichterstattung auf rbb am Abend eine untergeordnete Rolle. Die übrigens ein herausragendes Beispiel an zeitgemäßer Live-Berichterstattung war

Junge Reporter*innen an diversen Standorten berichteten kompetent, kritisch, kenntnisreich und rhetorisch jederzeit auf der Höhe, moderiert von einem stets präsenten Host im Studio, der mit dem Smartphone in der Hand sowohl die breaking news mit einbaute als auch Zuschauer*innenkommentare. Die Übertragung lief ebenfalls auf Facebook, Insta und YouTube.

So erfuhr ich live um kurz nach 20 Uhr, dass die Veranstaltenden die revolutionäre Demo abgebrochen hatten, am Kotti, weil der Repressionsapparat ein paar Meter weiter am Oranienplatz einen weiträumigen Kessel aufgebaut hatte, in den die Demo reingelaufen wäre. Mit allen Konsequenzen. Wie ein Hochschaukeln der Gewalt z. B. Was der neuen CDU-geführten Regierung und der synchronen Springerpresse wunderbar in die Karten gespielt hätte.

Da muss sich der Faktennebel noch lichten und da bin ich auf die Kommentierung in der Bürgerpresse gespannt.

Es war im rbb so ganz anders als die Live-Wahlberichterstattung auf ARD und ZDF; die niemand voneinander unterscheiden kann, wo steife, mittelalte Gestalten ungelenk die ewig gleichen Rituale zelebrieren, der mediale Höhepunkt das moderative Hin – und Herwischen auf einem Riesentablet ist und soziale Medien eher so ein Nischendasein wie ein rosafarbenes Einhorn spielen. Bewegung, Veränderung? Fehlanzeige. Öffentlich-rechtliche Ketten.

Dass es anders geht, hat der öffentlich-rechtliche rbb am 1. Mai gezeigt.

Ich fand’s spannender als jeden Krimi.

1. Mai 2023 – Unerbrochen solidarisch

DGB-Maiplakat 1956

DGB-Maiplakat 2023

Ungebrochen solidarisch ist ein schlechter Slogan: Zu viele Silben auf zu kurzem Raum, holpriger Rhythmus und ungebrochen ist ein Wort, über das nicht nur der normale Werktätige erstmal stolpert, sich mit der schwieligen Arbeiterfaust über die vom Hämmern und Nieten schweißnasse Stirn fährt und überlegt: „Ungebrochen? Heißt das, ich soll nach dem Maiüblichen Zechgelage nicht kotzen?“ Nicht gerade Alltagssprachgebrauch und außerdem zu defensiv. Müssen sich die Gewerkschaften etwa verteidigen, weil sie zu gebrochen solidarisch gewesen sind in letzter Zeit? Natürlich sind sie das, diese Arbeiterverräter und gekauften Ko-Managementbüttel des Kapitals, deren Solidarität oft an der Grenze des eigenen Staates, der eigenen Facharbeiter*innenklientel aufhört. Aber am Kampftag der Arbeiterinnenklasse derart defensiv entschuldigend sich zu positionieren „Keine Angst, wir sind weiter unerbrochen solidarisch“, ist schon ein starkes, weil schwaches Stück.

Und so verweile ich für Momente in früheren Zeiten, als alles besser war, sogar der Klassenkampf in Gewerkschaften und SPD eine Option war. Samstags gehört Vati mir, das waren noch Claims. Über den angedeuteten Hitlergruß des Pimpfes sehen wir mal großzügig hinweg. Oder 35 Stunden sind genug. Dafür habe ich noch gestreikt. Schön auch: Freibier und Erbsensuppe. Nicht vom DGB, sondern vom SCHUPPEN 68, aber auch Weltklasse. Versteht doch sofort jede, stehen alle dahinter, da darf auch ruhig mal gekotzt werden.

Venceremos! No pasaran!

27.04.2023 – Die kalte Realität der roten Paprika

Korfu Impressionen: Blick vom Balkon.

Bergdorf

Am Meer.

Früher hab ich darüber gelästert, wie man nur so blöd sein könne, seine Daten in der Cloud zu speichern. Mit dem Blog hier mitsamt Bildern mache ich letztlich nichts anderes. Bei Morgentemperaturen von um die Null Grad erwärmen solche Bilder-Erinnerungen zwar nicht die kalten Füße, aber das Gemüt. Wobei ich mich schon nach zwei, drei Tagen frage: War da mal was?

Stattdessen die kalte Realität der roten Paprika. Angesichts der explodierenden Lebensmittelpreise mit einem Höhepunkt von 10 Euro für das Kilo rote Paprika stellt sich die Frage der Subsistenzwirtschaft immer mehr. Also habe ich ein paar rote Paprika Setzlinge draußen stehen. Die sind extrem kälteempfindlich. Angeblich sterben die schon bei unter 10 Grad ab und sollen erst nach den Eisheiligen raus. Nun betreibe ich sämtliche Anbauaktivitäten streng wissenschaftlich, mit Tabellen, Dokumentationen, Listen etc. Wissenschaft heißt ja auch: Das vermeintlich Gesicherte immer wieder hinterfragen und überprüfen. Ich erinnere nur an die jahrzehntelange Legende vom hohen Eisengehalt beim Spinat . Also setze ich in einem Feldversuch rote Paprika niedrigen Temperaturen aus. Und siehe da: Das Zeug ist wesentlich resilienter als in der Fachliteratur behauptet wird. Die sind immer noch gesund und munter.

 Eine schreibt vom anderen ab, ohne zu verifizieren, und so wächst, blüht und gedeiht vor allem der Unsinn in der Welt. Und meine Paprika. Das Gleiche gilt auch für andere Pflanzen. Eigentlich dürfte ich mich mit Paprika, Kohlrabi, Rote Beete etc. gar nicht abgeben. Letztlich geht es in einer Marktwirtschaft um den Tauschwert der Waren, um den maximalen Profit pro Quadratmeter Anbaufläche. Also kommt nach Lage der Dinge nur der Anbau von Safran, dem teuersten Gewürz der Welt, und Marihuana in Betracht. Beide mit einem Marktwert von über 10 Euro pro Gramm. Die alberne Legalisierungsdiskussion lassen wir hier außer Betracht. Es geht nicht um Recht und Gesetz, es geht um den Herrscher der Welt: Den Markt.

Im diesbezügl. Gesetzgebungsverfahren müssen in den Referentinnenrunden jede Menge Joints gekreist sein. Wie anders ist zu erklären, dass der Besitz von drei Pflanzen straffrei sein soll, immerhin mit einer potentiellen Ernte von ca. 300 Gramm, Marktwert über 3000 Euro, aber nur 30 Gramm von dem Zeug. In welchem Zeitraum eigentlich? Pro Monat? Pro Woche? Mit welchem THC-Gehalt? Da gibt’s Unterschiede wie zwischen Bier und Korn im Alkoholgehalt.

Niemand formuliert mehr exakt.

Peace.

26.04.2023 – Eine Haufen Scheiße, mit rosa Bändchen drum.

Alkoholfreier Späti, in Kreuzberg, geöffnet von 12 – 19 Uhr.

Wenn es sowas wie eine dreifache contradictio in adjetcto gibt, dann haben wir hier eine. Späti, von 12 – 19, in Kreuzberg, alkoholfrei. Beispiele für eine klassische einfache contradictio in adjetcto sind: Schwarzer Schimmel. Oder linke SPD.

Das ganze Leben ist ein Widerspruch in sich. Wir wissen, dass der Klimawandel in einer Katastrophe münden wird, wenn wir nicht sofort radikalst gegensteuern. Aber wir ändern nichts. Und das auch noch zu spät. Nur weiße Salbe. Und die auch noch in die Haare und nicht auf das Krebsgeschwür. Ich glaube, dass wir selbst dann in eine Katastrophe steuern, wenn wir sofort radikalst was tun. Aber ich bin kein Fachmann, ich bilde mir nur aus den Fakten eine Meinung. Die Fakten können Sie hier sehr kurz und übersichtlich nachlesen . Das ist aus meiner Sicht bereits jetzt katastrophal. Und wir verfehlen die ohnehin zu niedrigen aktuellen Klimaziele nicht nur – außer im Bereich Industrie, das ist aber ausschließlich der Pandemie geschuldet und wird sich radikal ändern mit dem Wirtschaftswachstum – es ist auch kein Anzeichen für eine Trendumkehr der Zahlen und Prozesse oder einen Bewusstseinswandel in Politik oder Öffentlichkeit zu sehen. Die Leute wollen in Urlaub fliegen, mit dem Verbrenner über die Autobahn heizen und die Klimakleber am liebsten von der Straße kärchern oder gleich über den Haufen brettern. Nicht alle Leute. Es gibt auch ein paar Gute.

Wie mich, der sich mal kurz für eine Stunde zum Klebetraining freischaufelt. Zu dem ich im Prinzip im Flugzeug angereist bin. Einen Tag vorher war ich noch auf Korfu. Auch eine Art contradictio in adjetcto. Heute würde man eher sagen kognitive Dissonanz. Ich sehe das Bessere, finde es gut, folge aber dem Schlechteren. Und fühle mich dabei schuldig. Video meliora, proboque, deteriora sequor. Ist nicht von mir. Ist von Ovid. 2000 Jahre alt.

Alles wesentliche zur Verfasstheit des zeitgenössischen Konsum-Citoyens in Zeiten der Klimakatastrophe wurde vor 2.000 Jahren schon gesagt. Das Geklapper moderner wichtigtuerischer Schwatzhanseln (wieso komme ausgerechnet ich gerade auf diese Formulierung?) mit kognitiver Blabla Dissonanz etc. pp. lässt sich fast immer auf antike Grundmuster zurückführen. Einfach eine Schleife drum, neues Etikett drauf und Sie können 2.000 Jahre alte Inhalte als Coach in teuren Seminaren als neueste (!) Erkenntnis von Übermorgen verkaufen. Das ist wie mit FDP-Klimapolitik. Eine Haufen Scheiße, mit rosa Bändchen Technologieoffenheit drum, und schon frisst der Porsche Mob das als Eigenverantwortung mündiger Bürger.

Ich glaube übrigens nicht, dass der Hass auf die Klimakleberinnen aus Schuldgefühlen rührt, Verdrängung, Projektion, was auch immer da hinein gedeutet wird zur Zeit. Dass also die Menschen erkennen, dass sie wider bessres Klima-Wissen falsch handeln und in einer Art Schuldumkehr nicht sich hassen, sondern die Klimakleberinnen, weil die ihnen den Spiegel vorhalten, das manifestierte schlechte Gewissen sind. Das mag auf ein paar hyperventilierende Kommentatoren zutreffen, die diesen überaus freundlichen, liebenswerten, vollkommen gewaltfernen Klimakleberinnen unterstellen, sie seien die Wegbereiterinnen eines RAF-Klimaterrors. Das ist so irre, das es nur mit psychopathologischen Reflexen erklärt werden kann.

Ich glaube eher, dass der Hass von Frieda Normalverbraucherin auf ihre letztlich eigene Brut einfach nur der Hass von Normalnazis ist auf alles, was anders ist. Vorgestern waren es Juden, die es auch heute wieder sind und immer bleiben werden, gestern waren es Migrantinnen, in der nächsten Wirtschaftskrise werden es mal wieder Erwerbslose sein. Eine endlose Liste ….

So gesehen würde ich als Zyniker sagen, unsere Gesellschaft ist ein Haufen Scheiße. Es kommt nur darauf an, sich die rosa Bändchen rauszusuchen.

Ich bin aber vorrangig Gärtner und deshalb muss ich jetzt mal gucken, wie mein Gras die kalte Nacht überstanden hat. Bis denne.

25.04.2023 – Ich bin ein Klimakleber

Plakate sind wie Wandzeitungen, sie spiegeln in Design und Inhalt für alle sichtbar wider, was die Stadt bewegt.

Die Fahrt vom Flughafen BER mit der S 45 und dem 140er Bus nach Kreuzberg dauerte fast so lange wie der Flug von Korfu. Am nächsten Tag wollte ich eigentlich nur chillen. Der geschätzte WG-Genosse TB durchkreuzte den Plan: „Wir müssen das Klima retten, die Jugend unterstützen und machen auf dem Platz der Luftbrücke das Klebertraining der Letzten Generation mit.“ Ich verschwieg um des lieben Friedens willen, was das Klima und vor allem die Jugend mich mal können und dackelte mit. Außerdem gilt einem zentralen Interesse von mir Theorie, Praxis und Ideologiekritik Sozialer Bewegungen. Nichts ist da langweiliger als bedrucktes Papier, Erkenntnis liefert die revolutionäre Praxis. Also hockte ich eine Viertelstunde später im Sitzkreis mit einer Handvoll ähnlicher Gesinnter, durchaus auch Ältere dabei.

Vorstellungsrunde, wer wir sind und was uns bewegt. Danach wurden wir von zwei Teamerinnen auf die Ziele und Grundlagen des Klimaklebens eingenordet. Oberstes Gebot: Keine Gewalt. Und: Wir lügen nicht, auch der Polizei gegenüber. Unser Hauptkapital ist Vertrauenswürdigkeit. Außerdem gehen wir extrem achtsam mit uns, den anderen TN, der Umwelt um. Taktisch clever: Mit der Klebeaktion warten wir, bis die Polizei da ist. Sonst würde es mit Sicherheit aus meiner Sicht auch schon Tote gegeben haben. Im ideellen doitschen Gesamtautofahrer schlummert ein Killer. Sie brauchen sich nur mal ein paar Minuten im Regen auf eine Autobahnbrücke zu stellen, dann wissen Sie, was ich meine. Dann gab es noch ein paar Verhaltensregeln für Polizeigewahrsam und Haft, wie da unter anderem mit nichtbinären Personen umgegangen wird und dass es auch schon veganes Essen gibt. Beruhigend: Bei Leibesvisitationen wurden bisher noch keine Körperöffnungen durchsucht.

Dann folgte eine Einstimmung auf das eigentliche Training. Sowas kennen alle, die schon mal Kurse in Meditation, Rückenschule und sonstigem Achtsamkeitsgedöns gemacht haben. Wir legten uns auf den Rücken, sollten auf unserem Atem achten, den Kontakt zum Boden, die Kraft in uns und das Universum spüren. Es unterschied sich im Habitus sehr von der stalinistischen Militanz früherer linksradikaler Sekten.

Nicht jedoch in der Entschlossenheit. Da hat sich ein harter Kern Letzte-Generation-Bewegungsprofis herausgebildet, deren Lebensmittelpunkt und Glaubenskern das ist. Und wenn sich die Politik nicht bewegt, also einfach die selbst gesteckten Klimaziele umsetzt, denn mehr fordern die Kleber*innen nicht, dann ist die Letzte Generation die letzte nach meiner Einschätzung, die Gewaltlosigkeit als Prinzip vertritt. Blick in den Rückspiegel, was Eskalationsentwicklungen angeht, Ulrike Meinhoff vor 50 Jahren: „ …. natürlich kann geschossen werden“.

Geschichte wiederholt sich nicht, es sei denn als Tragödie und Farce. Für welches von Beiden sich auf der Klima- und damit der Weltbühne als nächstes der Vorhang hebt, wissen wir nicht. Für die Meisten von uns gilt, als Publikum: „Und wieder sehen wir betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ (Ist nicht von mir, ist von Brecht.)

Für mich aber galt für einen Moment der Geschichte auf dem lärmumtosten Platz der Luftbrücke am Tempelhofer Feld, umrahmt von ein paar Polizisten und einem ZDF-Team: Ich bin ein Klimakleber.

Nach einer Stunde allerdings wurde mir auf dem feuchten Rasen kalt. Wir flanierten den Columbia Damm runter, kauften uns auf dem Kreuzberger Kiezboulevard Bergmannstr. eine gute Flasche Crémant und leerten die in der milden Abendsonne auf einer der Ruheinseln dieses Referenzmodells von Verkehrsberuhigung.

Viva la revolución