20.07.2024 – Once in a Lifetime. Oder: Im Paradies für eine Saison.

Veranda Pergola aus Wein

Es gibt archaische, biblische Vorstellungen vom Paradies, wo einem gebratene Tauben ins Maul fliegen und Weintrauben in den Mund wachsen. Wenn das mit dem Paradies auf Erden schon immer schwieriger wird, so wollte ich diese Utopie wenigstens einmal verwirklichen. Ich ließ also auf meiner Veranda Wein für eine Pergola so wachsen, dass mir morgens beim Raustreten die reifen Trauben ins Maul fallen. Zwar muss ich mich mit den Amseln um die Trauben prügeln, aber sie sind jetzt schon nahezu reif, obwohl der Sommer bisher dafür schrecklich war. Wenn das so weitergeht, sollte das ein gruseliger Wein-Jahrgang werden.

Das Konstrukt ist wenig durchdacht, die reifen Trauben ziehen den Befestigungsdraht nach unten. Und immer wenn es regnet – und es regnet in diesem Jahr immer, das Jahr mit dem höchsten Niederschlag seit Beginn der Aufzeichnungen – wird das Laub schwer. Der Regen hängt im Wein und zieht ihn zusätzlich runter, so dass ich dauernd nass werde, weil ich daran stoße. Und ich stoße immer daran. Aber in den lichten Momenten wie heute, wenn die Sonne warm die Haut streichelt, ein Gefühl von Stillstand der Zeit über dem ruhigen Garten schwebt und ich mit den Zähnen die reifen Trauben aus der Rebe beiße, in diesen kurzen Momenten ist das Paradies nahe. Und nur für diese paar Momente hat der Aufwand und die Inszenierung gelohnt. Außerdem kann ich jetzt auf der Veranda sitzen, auch wenn die Sonne drauf scheint. Und ich verspüre in mir dann ein griechisches Gefühl. Der Grieche an und für sich hat einen starken Hang zur Pergola, wegen Schatten. Und schon im Barbier von Sevilla heißt es ja: Pergola hier, Pergola da.

Sitzen geht da sonst nicht. Die Rekordtemperatur dieses Jahr in der Sonne liegt bei 53,4 Grad und da kocht das Eiweiß im Körper.

Interessant aber und nun wechseln wir von der Abteilung Lyrik in die Naturwissenschaft, ist folgende Tatsache: Der Wein oben rankt über ca. 2,50 Meter. Diese Strecke reicht schon aus, die Trauben unterschiedlich üppig und früh reifen zu lassen. Je näher an der Wärme speichernden und reflektierenden Hauswand, desto üppiger und früher reif

Nahe an der Hauswand

Am weitesten entfernt

Im Herbst kommt das Ding wieder weg, wird kurz geschnitten. Mir bleibt die Genugtuung, einmal im Leben eine Utopie von Paradies verwirklicht zu haben. Once in a lifetime. Die Musik dazu zum Sommertanz gibt es hier hier: Once in a Lifetime .

Eine schöne Geschichte ist das für einen Lebensratgeber: „In 14 Kapiteln zum Glück oder: Wie ich mich selbst authentisch verwirkliche.“ Ich schreibe sowas gerade und Sie, liebe Leserinnen, kommen live und direkt in den Genuss meiner gesammelten Weisheiten, bevor das Werk die Bestsellerlisten erstürmt.

19.07.2024 – Ich hab’s ja gleich gesagt

So liebe ich Massenveranstaltungen, außer mir keiner da. Fanmeile Brandenburger Tor, zwei Tage vor Endspiel. Gestern gab es bei einer Massenveranstaltung, einem AC/DC Konzert mit 90.000 Besuchern in Stuttgart, zahlreiche Verletzte und Panikattacken, weil auf den Anzeigetafeln fälschlicherweise stand, die Leute sollten an den Notausgängen rausgehen.

Ich habe ja eine blühende Phantasie und mir vorgestellt, wie bei einer Massenveranstaltung von Faschisten mit einem charismatischen Führer auf den Anzeigentafeln „fälschlicherweise“ angezeigt wird, dass jetzt alle in ein linkes Zeckenviertel, wo auch viele Migrationshintergründlinge leben, marschieren und für Ordnung sorgen sollen. Gut, dass es in Deutschland keine Faschistenführer mit Charisma gibt. Noch nicht. Nur Krampfhennen wie Weidel, Bäckerburschen wie Chrupalla und Witzfiguren wie der Goebbelsimitator Höcke. Wobei der kreischende Hitler mit Schaum vor dem Maul ja schon in der Weimarer Republik vielen eher wie eine Witzfigur vorkam. Ein grausiger Witz, bei dessen Massenveranstaltungen und Reden später Frauen vor Entzücken über diesen messianischen Erlöser ähnlich ekstatisch reagierten wie später bei Beatles Konzerten, wo der Saal hinterher gerüchtweise heftig nach Urin gerochen haben soll. Männer zerlegten bei sowas schon mal ganze Konzertsäle.

AC/DC, Bruce Springsteen, Roland Kaiser, Marius Müller-Gesternhagen etc. pp., jetzt sind sie alle wieder unterwegs, die Stadion-Dinosaurier, die seit Jahrzehnten den immer gleichen Quark breittreten und mit dafür sorgen, dass es im Pop keine Innovation mehr gibt. Ein Phänomen, dass auch in anderen Kulturbereichen zu beobachten ist. In der Malerei gibt es Blockbuster-Ausstellungen von Megastars wie van Gogh, Rembrandt, aktuell Caspar David Friedrich, für deren Besuch Sie Zeitfenster buchen müssen. Innovationen, neue Trends in der Bildenden Kunst finden nicht statt. Street Art ist mittlerweile alter Käse und der Hype um digitale Kunst ist längst geplatzt. Da ging es auch nur um das Medium der Digitalität, nicht um Inhalte.

Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Ebenso wenig über die Breitschaft der Massen, für Stadionkonzerte Irrsinnspreise zu bezahlen. (Das hier Geschilderte gilt auch für Stadionfussball, siehe EM). Da kostet eine Karte schon mal das, was ein Bürgergeldbezieher im Monat kriegt und auf dem Schwarzmarkt das Vielfache. Zum Taylor Swift Konzert in Grellsenkichern fliegen Besucherinnen aus Kanada an, weil das billiger ist als das Konzert im Heimatland. Grotesk, aber in seiner Dekadenz ein weiterer Beleg dafür, dass wir uns in einer Phase von Fin de Siècle befinden. Auf Grund der Irrsinnspreise für seine Konzerte löste sich das von Springsteen-Fans betriebene Magazin »Backstreets« auf, das seit 43 Jahren über den Sänger berichtet hatte. Die Redaktion sei »entmutigt, niedergeschlagen und, ja, desillusioniert« . Springsteen machte früher ausgeprägt auf dicke Hose eines „Ich bin einer von Euch, working class hero.“ Solche Attitüden von millionenschweren Popstars waren in den 70ern schon lächerlich. Heute sind sie grotesk und spiegeln die komplette Kommerzialisierung auf Basis von medialen Inszenierungen eines aus den Fugen geratenen neoliberalen Marktes und seiner Jünger wider.

Das aber ist wie gesagt alles Geschmackssache und über den lässt sich nicht streiten. Streiten sollte man allerdings schon über die psychischen und damit politisch funktionalisierbaren Dispositionen, die der Faszination an Massenveranstaltungen wie Stadionkonzerten zugrunde liegen. Warum finden Menschen ihr Glück dort? Neben dem Genuss der ewig gleichen Akkorde, was ihnen Beständigkeit in einer aus den Fugen geratenen Welt vorgaukelt? Zwei Erklärungen fallen mir spontan ein, bei denen mich angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung gruselt: Die Verschmelzungs-Sehnsucht, in der Masse aufzugehen, eins zu werden mit Zehntausenden, am Ende Millionen, Teil zu werden einer großen Erlösergemeinschaft. Und die bedingungslose Identifikation mit dem Führer-Idol, oben auf der Bühne. Oder auf dem Rednerpult.

Diese offensichtlich massenhaft vorhandenen psychischen Bedürfnisse sind funktionalisierbar, können neben Pop auch an Politik andocken. Siehe oben. Und dann Gnade uns Göttin.

Diese Erkenntnisse sind nicht neu und schon gar nicht von mir. Das basiert vor allem auf der Arbeit von Wilhelm Reich wie „Massenpsychologie des Faschismus“, aber auch der Frankfurter Schule. Ich wollt’s aus aktuellem Anlass nur mal erwähnen, damit es nicht in Vergessenheit gerät. Und aus rechthaberischer Eitelkeit. Damit ich später behaupten kann: Ich hab’s ja gleich gesagt.

18.07.2024 – Da läuft es einem warm den Rücken runter

Passend zur Zeit: Sommerloch

Passend zum Thema: Documenta (Im Bild der geschätzte Kollege H. Sievers)

Passend zu mir: Geld verbrennen

Ich tue mich ja ungern dicke (Phrase! Gelogen). Aber um zu dokumentieren, wie sehr meine Behauptung den Tatsachen entspricht, ich sei seit Jahren als weltweit einer der renommiertesten Aktionskünstler Teil des Kulturbetriebes mit intimen Kenntnissen desselben, habe ich hier wahllos ein paar Beispiele veröffentlicht.

Kultur soll, so behaupten es zumindest die Agenten des Betriebes, existentiell sein für die menschliche Existenz und Dostojewski verstieg sich gar zur These: Kunst ist für den Menschen genauso ein Bedürfnis wie Essen und Trinken.

Was soll er auch anderes sagen, er lebte von der Kunst. Ich für meinen Teil komme auch mal eine Woche ohne Kunst aus und gegen den zeitgenössischen Kulturbetrieb habe ich im Laufe der Zeit eine regelrechte Aversion entwickelt. Der hiesige Kulturbetrieb zählt mit den ihn pampernden Parteien der grünrot lackierten „linken“ Mitte zum Juste Milieu einer – noch -semiliberalen Öffentlichkeit. Dieses – noch – wohlsaturierte Milieu interessierte sich in den letzten Jahren überwiegend für Fragen der Diversität, Rassengleichheit, Dekolonisation, von Körper und Identität, Postfeminismus, toxischen Männlichkeiten, Subjektivität und vor allem für Blablabla, Zitat : „ Alexandra Pirici schafft eine lebendige Landschaft, in der sich menschliche Körper der Performer*innen ebenso wie die der Besucher*innen inmitten chemischer Reaktionen, Mineralbildungen und anderen physikalischen Phänomenen bewegen.“

Abzulesen, zu sehen ist der geschilderte Trend in den aktuellen Kunst-Ausstellungen in Berlin, wie immer dem Rest der Republik um Jahre voraus, siehe Link. Die handelsüblichen Blockbuster wie Frans Hals oder SuppenKasper David Friedrich zur Erbauung des eher konservativen Milieus der rechten Mitte ergänzen das Bild eines nur in Berlin mit hunderten von Millionen geförderten, nimmersatten Betriebs, dem eine wachsende Mehrheit der Bevölkerung nicht nur fremd, sondern zunehmend aggressiv gegenübersteht  (Jeder Opernbesuch wird staatlich mit 220 Euro gefördert). Nicht dass die Mehrheit der Bevölkerung mit ihrer Ablehnung recht hätte, im Grunde ist das eine reaktionäre Haltung. Berechtigt ist hingegen die Aversion gegen den exkludierenden Charakter des Kultur- und Politikbetriebes und die Haltung des sie tragenden Milieus.

Diese Haltung ist gekennzeichnet von Desinteresse gegenüber den Interessen und Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung, von Ausgrenzung, ja Verachtung und Rohheit.

Wo in den ganzen Ausstellungen sind Fragen thematisiert nach den Bedingungen von prekären Arbeitswelten, nach Armut und Reichtum, Leben in sozialen Brennpunkten, Bürgergeld, Altersarmut, Kinderarmut, Ausschluss von prekären Existenzen bei Bildung, Gesundheit, Mobilität, Ernährung.

Bei den Parteien der linken Mitte wird das alles pflichtschuldig im Programm angesprochen und konsequenzlos abgehakt und ansonsten gilt die Parole: Mit Sozialpolitik gewinnt man keine Wahlen und ich muss jetzt zur nächsten Vernissage in den Kunstverein, da sitze ich im Beirat.

Wie viele Kunstorte befinden sich wohl in sozialen Brennpunkten wie dem Märkischen Viertel, in Teilen von Wedding, Reinickendorf, Neukölln etc. pp.? Wie viele dagegen in den Schicki-Micki Mitte, Prenzlau, von Kreuzberg ganz zu schweigen, das ist ein riesiges Freiluft-Kulturlabor mit 150.000 Dauerbesucherinnen plus dreimal so vielen Tagesgästen … .

Diese bürgerliche Ignoranz rächt sich gerade, bitter im Zerfall der Gesellschaft, und wird sich radikal und militant gegen deren Protagonisten wenden. Und ich merke, wie ich zusehends aggressiver gegen den Kulturbetrieb reagiere, wenn ich die zahlreichen kleinen Galerien und Kunsträume in Berlin erforsche, wo der Eintritt oft umsonst ist und ich ganz selten andere Besucherinnen antreffe.

Interessanterweise korreliert die hier geschilderte soziale und politische Ignoranz des Betriebes mit einem veritablen Antisemitismus. Aber dafür reicht der heutige Blog-Platz nicht mehr, Deutschlands renommiertester Aktionskünstler arbeitet an einem neuen Projekt und hat keine Zeit mehr. In einem sozialen Brennpunkt. Bleiben Sie drin, liebe Leserinnen.

17.07.2024 – Home Grown am Kanzlerin-Amt

Magische Orte: Konzert in untergehender Abendsonne auf der Terrasse des „Haus der Kulturen der Welt“. Sehr tanzbarer Afrofunk aus Nigeria von einer Gruppe mit klaren politischen Statements namens Bantu. Eine Location für derartige Konzerte, bei der es sogar Crémant gibt, ist mir sonst nicht bekannt. Das warme Licht auf dieser genial-kühnen Dachkonstruktion, treibender Groove, buntes Publikum, vorher hatten wir uns noch in der Fanzone vergnügt, der Abend hatte fast alles, um Eingang in die Jahreschronik zu finden. Und trotzdem fehlte mir das letzte Quäntchen an Zugang, jener transzendentale Moment, der den Alltag von der anderen Welt unterscheidet, jener, in der Entgrenzung, Rausch, Ekstase stattfinden können.

Ich schaute von der Terrasse auf die Spree, an deren Ufer Leichtlebigkeit, Frivolität und Dekadenz zu herrschen schienen,  und auf das Bundeskanzleramt, das für mich solange Kanzlerin-Amt heißen wird, bis Angela Merkel eine würdige Nachfolge gefunden hat. Was ich aber eher nicht mehr erleben werde. Vermutlich wird man sogar die derzeitige Wurst, die jetzt da residiert, nach der Bundestags-Wahl in einem Jahr vermissen. Was für Zustände, was für ein Land.

Eine Lösung für den mangelnden Zugang fand ich in dem Blick aber auch nicht und schon gar wollte ich mir die trotz allem überaus freundliche Stimmung nicht von Gedanken an die böse, böse Politik verderben lassen. Vielleicht lag es ja auch daran, dass es so leer auf der Terrasse wie nie war. Wieso eigentlich? Bei sowas kommt in mir immer eine Art Fin de Siècle Stimmung auf, Endzeit

Fin de Siècle beschreibt das Lebensgefühl und den Zustand der Kultur vor dem Beginn des Ersten Weltkriegs, als die Menschen eine Ahnung davon bekamen, dass bald eine Epoche zu Ende gehen würde, unwiederbringlich, dramatisch, schmerzhaft.

Das Zeitalter war geprägt von Militarismus, Nationalismus und dramatischer Umwälzung sozialer Verhältnisse und von, Zitat: „

…. Zukunftsangst und Regression, … Lebensüberdruss, Weltschmerz, Faszination von Tod und Vergänglichkeit, Leichtlebigkeit, Frivolität und Dekadenz. Eine allgemeine Krise ergriff die maßgebenden Gesellschaftsschichten, weil Grundwerte des sozialen Lebens gefährdet schienen. Als Überreaktion der europäischen Führungsschichten auf die Krisenerscheinungen und in einer „großen Angst, die unter den Herrschenden umging“, vollzog sich eine kontinuierliche militärische Aufrüstung: „Die Militarisierung nahm eine jeden geschichtlichen Vergleich sprengende Dimension an.“

In diesem Interregnum wusste niemand, was sein würde, der Abgrund der Zivilisation ein paar Jahrzehnte später, der Holocaust, war noch jenseits der Vorstellungskraft.

Vielleicht können Sie, liebe Leserinnen, in dem Geschilderten etwas wiedererkennen, sei es, was den derzeitigen Zustand der Gesellschaft angeht oder Ihre eigene Befindlichkeit.

 Ich für meinen Teil zündete mir auf der Terrasse etwas vom Home Grown, Jahrgang 2023, an. Geht doch, dachte ich im Aufkommen transzendentaler Befindlichkeiten, man muss sich nur Mühe geben.

Wer es gerne handfester hat: der Goldpreis , auf absolutem Rekordhoch, ist der Indikator für Krise schlechthin, der kennt in Krisenzeiten normalerweise nur eine Richtung – bergauf. Seit Jahresbeginn ist er um über 20 Prozent gestiegen, seit Corona-Beginn  Ende 2019 um über 70 Prozent, seit der Jahrtausendwende, seitdem sich die Krisen die Türklinke in die Hand geben, um 750 Prozent

14.07.2024 – Flamenco Tänzer*in und Ritter

Spanische und englische Fans feiern gemeinsam in der Nacht vor dem Endspiel, hier im Säulengang des Brandenburger Tors. Ein Kontrapunkt zu den nationalistischen Ausfällen von Türken, Albanern, Österreichern, Kroaten, Serben… Das sind die, die ich mitgekriegt habe. Irgendwie zeichnet sich da ein geografisches Südwest nach Südost-Gefälle ab, was entspanntes Sport- und Party-Verhalten angeht.

Die Deutschen wurden in ihrem Partypatriotismus durch das frühe Ausscheiden gebremst. In Kreuzberg zumindest Null Flaggen. Es steht allerdings zu befürchten, dass die Hand Zottels, mein Lieblingsspieler dieser EM, der Hispano-Zausel mit dem vermeintlichen Elfer, heute im Endspiel wieder gnadenlos ausgepfiffen wird von den deutschen Sportskameraden. Eigentlich wäre das ja unser Endspiel gewesen. Die Karten kosten übrigen auf dem Schwarzmarkt bis zu 5000 Euro.

Gestern war wieder so eine ideale Sommernacht in der Hauptstadt. Sommerlich, im Park Gleisdreieck hunderte von Feiernde bei einer African food and music Party , in den Fanzonen am Reichstag und Brandenburger Tor war auch was los, siehe oben, und in der Schwangeren Auster ein Konzert mit tollen Bands aus Afrika. Alles divers, bunt, Kultur pur. Man muss es sich nur leisten können. Und auf dem ganzen Weg von Kreuzberg bis zur Schwangeren Auster, vulgo Haus der Kulturen der Welt an der Spree, ein endloser Fahrradkorso. Bringedienst Boten mit Pizzen. Fast alle dunkelhäutig. Schatten aus der Peripherie. Mitten drin. Und doch ganz weit draußen.

12.07.2024 – In der Fanzone

Ich und Adolf Dassler, der Gründer von Adidas, grübeln in der menschenleeren Fanzone vor dem Reichstag, warum die EM so Scheisse für Deutschland gelaufen ist. Adolf Dassler und sein Bruder, der spätere Gründer des Konkurrenzunternehmens Puma, traten am 1. März 1933 in die NSDAP ein. Nach dem Krieg denunzierten sie sich gegenseitig bei den Alliierten als Nazis.

Die Fanzonen vor Reichstag und Brandenburger Tor sind für die Budenbetreiber ein Desaster, was man bisher hört. Horrende Mieten, Unwetter, frühes Ausscheiden der Ostgoten, nur wenige Spiele dort im public viewing und 10 Euro für kleine , beschissene Hamburger , die Leute bleiben weg wie geschnitten Brot. Trikots der deutschen Mannschaft gibt es vor Ort mit 40 Prozent Rabatt. Ich komme Montag wieder, wenn es alles umsonst gibt.

Ich hatte vor Ort den Spaß dieses Sommers. Beim Rexona Fussball Contest erreichte ich einen Highscore von 8, dafür gab es ein Video meiner Kickerkünste. Als Preis kriegte ich einen Fanbrush, mit dem ich mein Gesicht in schwanzrotgold bemalen kann. Von der Ergo Versicherung kriegte ich einen hochwertigen Rucksack mit der Aufschrift „Ich habe Stadionformat.“

Hinterher waren wir im Mitte Museum in der Ausstellung „Letzte Anschrift Müllerstr. 163“. Die verschüttete Geschichte eines Hauses und seiner jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner.

10.07.2024 – Eigentlich wollte ich zur EM kein Wort mehr verlieren.

Die ehemalige tschechoslowakische Botschaft in der Mohrenstraße. Aus meiner Serie: Botschaften der ehemaligen sozialistischen Bruderländer der DDR. Ein wundervolles Beispiel von Brutalismus in der Sonderform des sozialistischen Realismus.

Meine Landsleute überraschen mich immer wieder (Gelogen, Phrase). Hatte ich gedacht, die Petition mit Hunderttausenden Unterschriften zur Wiederholung des Spiels gegen Spanien wäre der an Peinlichkeit nicht zu überbietende Höhepunkt dieser Fußball-EM, sah ich mich gestern getäuscht. Der spanische Verteidiger, der im Spiel gegen die Ostgoten den Ball an die Hand bekam, wofür es regelgerecht keinen Elfmeter gab, wurde bei jedem Ballkontakt von zehntausenden Vollidioten ausgepfiffen. Es war derart unsportlich-würdelos, dass ich den Ton noch eher abschaltete als sonst, weil ich das Gequatsche nicht ertrage. Der langhaarige Zausel-Spanier zeigte den Arschlöschern auf seine würdevolle Art den Mittelfinger, als er sich nicht im geringsten darum kümmerte, ein fehlerfreies Spiel lieferte und die Schmach der Ostgoten komplettierte, als der Sieg gestern ein weiterer Schritt zum Titelgewinn der Spanier war. Dabei gehört doch der Titel den zehntausenden Pfeifern und Millionen Volksgenossen draußen im Lande! Und so jubelte mein Herz bei jedem Ballkontakt der Hand Zottels, wie ihn die Blöd liebevoll nennt. Oh Zottel, gepriesen sei dein Name!

Gesellschaftlich bedenklich aber fand ich an der Ungeisteshaltung gestern nicht so sehr das peinliche oder würdelose, sondern das trotzig-kindische, das dahintersteckt. Da zehntausende sich an dieser Unsportlichkeit beteiligten, können wir davon ausgehen, dass es sich um eine Art Nationalcharakter, zumindest einen flächendeckenden Wesenszug, handelt. Göttin schütze uns aber vor einer Nation, die nicht erwachsen denkt und handelt, sondern infantil und trotzig die Sandburgen der Nachbarskinder zertritt, weil sie nicht mehr mitspielen darf.

08.07.2024 – Volksfront

Lieber Hammern und Sicheln statt Jammern und Picheln. In Frankreich hat die Volksfront die Wahl gewonnen. Das ist ebenso überraschend wie positiv. Was im Falle eines Sieges der Franzosen-Nazis passiert wäre, lässt sich bereits jetzt auf kommunaler und regionaler Ebene da ablesen, wo der RN an der Macht ist. Kulturelles tabula rasa, missliebige Bücher raus aus den Bibliotheken, Mittelstreichung für widerborstige Kulturzentren, Organisationen, Projekte, Theater. Das hat bereits jetzt die Kulturszene in der sonst so widerborstigen Kulturnation Frankreich derart in Panik versetzt, dass sie in schweigende Schockstarre angesichts existentieller Jobbedrohungen vor den Wahlen verfallen war

Das kann in Deutschland nicht passieren. Da hat sich die Kulturszene schon seit Jahren politisch selbst kastriert. Mit einer Ausnahme: Wenn es um Antisemitismus geht, lässt sie sich von niemandem übertreffen.

Vielleicht kommen aber die Kulturbolschewisten jetzt aus ihren feigen Löchern und positionieren sich pro Volksfront. Wetten würde ich darauf nicht.

Volksfront als Zusammenschluss aller linken Strömungen und Parteien war früher ein magischer Mythos. Die Linken versetzte diese Utopie in hoffnungsvoll-kämpferische Euphorie, das Bürgertum in mörderische Wut. Wo sich Volksfronten abzeichneten oder realisiert wurden, griffen CIA, befreundete Organisationen und das Kapital ein, ermordeten die Protagonisten selber, zettelten Staatstreiche mit mörderischen Folgen wie in Chile an, unterstützten Bürgerkriege wie in Spanien oder reisten mit Koffern voller Geld zur Unterstützung der Konterrevolution an, wie die SPD im Falle Portugals nach der Nelkenrevolution.

Die mörderische Wut in Teilen des Bürgertums rührte nicht nur aus der vermeintlichen Bedrohung ihres Privatbesitzes, ihrer Großkonzerne und des Kapitals, sondern auch aus der für sie alptraumhaften möglichen Umwidmung ihrer Werte und Normen. Konsequente linke Umwälzungen der Gesellschaft würden auf allen Ebenen stattfinden. Das vermeintliche Ende der bürgerlichen Ehe, von Paarbeziehungen und Monogamie, welche historisch gesehen ja nur eine Ausnahmeregelung der Geschichte waren  und keinesfalls ewige gottgewollte Ordnung, stünde vor der Tür, selbst das Ende des Staates als ewigem Agenten ihrer Interessen, kurz: Der Untergang des christlichen Abendlandes.

Zur Verhinderung dieser Apokalypse flossen Ströme von Blut.

Heutzutage lockt eine Volksfrontmehrheit keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor. Deren Chef ist ein veritabler Antisemit und die Forderungen stellen nicht den Untergang des Abendlandes dar: Erhöhung des Mindestlohnes, Absenkung des Renteneintrittsalters, Einfrieren der Preise für Grundnahrungsmittel und Energie, Beteiligung der Superreichen an der Finanzierung des Gemeinwesens. Zur Verhinderung von solchen Lächerlichkeiten werden heutzutage keine Killerkommandos mehr in Marsch gesetzt, sondern die Märkte. Die Renditen für französische Staatsanleihen, also für die Kredite der Staatsfinanzierung, werden steigen, die Verschuldung nimmt zu und mögliche Reformen fallen wegen Geldmangels ins Wasser der sauberen Seine. Das sorgt für Volks-Verdruss und dann schlägt die wahre Stunde des RN. Denn schuld an allem werden die Ausländer sein….

Aber immerhin ein rosa Streif am Horizont: Wenn schon keine andere Welt in den heutigen Zeiten mehr möglich ist, dann wenigstens andere Mehrheiten. Vive la France! Und ich muss mir jetzt überlegen, ob ich im Halbfinale zum Franzmann halten soll. Eigentlich galten meine Sympathien ja dem Zerschmetterer der Ostgoten, dem stolzen Spanier. Tja.

06.07.2024 – Und nun zum Wetter

Fingerhut auf Veranda mit Sonne.

Deutschland ist im EM-Viertelfinale 2024 ausgeschieden. Und nun zum Wetter: Es wird wieder wärmer und sonniger. Vereinzelt sind Gewitter möglich, mit Schauern. Regen ist gut für Fingerhut, er benötigt im Halbschatten ausreichend Feuchtigkeit. Aus Fingerhut werden Herzglykoside, auch Digitalis-Glykoside genannt, hergestellt. Sie finden vor allem bei Herzinsuffizienz-Patienten mit Vorhofflimmern oder Herzrhythmusstörungen Verwendung. Allerdings kann eine Überdosierung tödlich wirken.

Nicht ganz so tödlich aber auch giftig wirkt der Rittersporn auf meiner Veranda, er enthält Alkaloide, die die Herzmuskulatur angreifen und psychoaktive Wirkungen haben können. Opium und Kokain sind weitere Alkaloide.

Schmackhaft und lecker hingegen sind die Wurzeln der Nachtkerze, die vor der Veranda wachsen.

Perspektivisch gesehen kann also die nächste Seuche kommen, ich bin für alle Eventualitäten eines Lockdowns mit Ausgangssperren gewappnet. Bis zum bitteren Ende.

 Sollte der aktuelle Vogelgrippeerreger mutieren, hat H5N1 das Potenzial, eine neue Pandemie auszulösen . Das Risiko dafür ist gering, laut RKI, aber nicht auszuschließen. Die Letalität kann je nach Mutation bei über 50 Prozent liegen.

Eine Mutation während der nächsten Grippesaison sei unwahrscheinlich, so der Virologe Streeck, dann müsste sich schon ein Patient sowohl mit dem H1N1 als auch dem H5N1 Erreger infizieren.

Das Ergebnis einer derartigen Durchmischung wäre unter Umständen ein Erreger, der eine hohe Infektiosität wie jede „normale“ Grippe hat und die erwähnt hohe Letalität.

Beruhigend laut Streeck ist die Impfstoffsituation:

„ … Wir befinden uns in einer ganz anderen Situation als bei Corona. Es gibt bereits wirksame Impfstoffe. Die Europäische Union hat bereits Impfdosen bestellt. Und in den USA werden Menschen mit viel Kontakt zu Rindern geimpft. Wenn es jetzt zu einem Ausbruch kommen würde, also zu einer Mensch-zu-Mensch-Übertragung, würde man sofort diesen Ausbruch über Impfungen aller Kontaktpersonen eindämmen …“

Beunruhigend empfinde ich die gesellschaftliche Situation, also die Durchsetzbarkeit von Impfungen. Ich glaube nicht, dass wir die letzte Pandemie ausreichend aufgearbeitet haben und in der Bevölkerung ein flächendeckendes Grundverständnis über die Notwendigkeit von Impfungen besteht und eine Akzeptanz von möglichen Pflichtimpfungen. Ich glaube eher, dass die chronischen Dauerkrisen nahezu pandemischen Ausmaßes die Menschen immer irrer und irrationaler machen.

Beruhigend dabei der Halbsatz „Ich glaube“. Mit dem Glauben ist das ja so eine Sache. Ich glaube z. B. auch, dass ich demnächst einen Sechser im Lotto habe und dass die Schweiz Europameister wird.

Noch beruhigender ist folgender Disclaimer: Ich bin weder Virologe noch Epidemiologe, noch nicht mal Naturwissenschaftler oder auch nur Wissenschaftsjournalist. Ich versuche nur, mir im Prozess des Schreibens Klarheit zu verschaffen. Ich versehe daher den Prozess mit einem Warnhinweis, weil dieser Blog nach wie vor ca. 40.000 Besucherinnen im Monat hat. Es ist möglich, dass ich mich irre, selbst mit dem Satz: Ich irre mich. Logik, echt zum irre werden.

Also sehen Sie, liebe Leserinnen, mein Geschreibsel einfach als Anregung, sich selbst aufzuklären, mit der Nutzung des wichtigsten Werkzeuges, dass Sie besitzen: Verstand.

04.07.2024 – 41 Tage

Deutsche Dreifaltigkeit: Die Liebe zum Auto, zum Fußball und zur Nation. Aber bisher wurde der Ball nach meiner Wahrnehmung angenehm flachgehalten, was Fahnenmeere, Autocorsi und andere National-Belästigungen angeht. Und hoffentlich hat sich das Morgen sowieso erledigt, wenn Spanien obsiegt. Dann führt mich nächste Woche mein erster Gang zum Tedi-Ein Euro-Laden, wo es dann Nationalfarbenparaphenalia für einen Cent gibt. Ich decke mich dort mit Papierservietten in Schwarzrotgold für die Grill-Saisons bis zur nächsten Fußball-WM ein.

Heuer fällt Grill weitgehend ins Wasser. Ob die Sommer früher, vor dem Krieg, alle so waren, viel Regen, wenig Sonne, selten heiß, weiß ich nicht. Was ich aus aktueller Naturbeobachtung im Garten weiß: Der Sommer bisher ist der mieseste seit vielen Jahren. Eine Graspflanze, die anfangs mit früh-üppigem, dichtem Wachstum zu den schönsten Hoffnungen berechtigte (Kurz und dick, Farmers Glück), hat das Wachstum fast komplett eingestellt

Und der Stand der Goldenen Neger ist ein trauriger Witz, Lichtjahre von Rekordhöhen an die 250 Zentimeter entfernt

Sonnenblume Goldener Neger.

Der Zustand dieses Sommers ist natürlich Regenwasser auf die Mühlen der Klimaleugner, denen der Unterschied zwischen Klima und Wetter egal wie der Harzkäse ist, welcher von allen Seiten gleich stinkt. Vom Klimaleugner zum Coronaleugner war und ist es nur ein kleiner Schritt und ich bin gespannt, wie die sich bei der nächsten Seuche verhalten. Die Uhr tickt unaufhaltsam. In den USA gab es jetzt den nächsten Fall des Übersprungs vom Tier auf den Menschen .

Da wurde mir doch kurz mulmig. Klimakatastrophen und der Übergang zum Faschismus, sowas passiert so schleichend, so jenseits von konkreter Alltagswahrnehmung, dass man das verdrängen kann, selbst wenn man auf der abstrakten und theoretischen Erkenntnisebene diese Szenarien als real einschätzt. Ein Nazi-Übergriff hier, eine Flutwelle im Ahrtal da, alles traurig, bitter und ins Puzzle passend. Aber das betrifft doch nur den Kopf und Verstand, solange man nicht direkt selbst bedroht wird, und nicht Bauch (das ist da, wo es mulmig wird) und Herz (das ist da, wo Beklemmung einsetzt, Angst). Aber eine Seuche kann wie ein Tsunami in Zeitlupe über einen hereinbrechen, man kann die Eieruhr neben die breaking news stellen.

Zur Corona-Erinnerung :

„… Am 31. Dezember 2019 wurde der Ausbruch einer neuen Lungenentzündung mit noch unbekannter Ursache in Wuhan in China bestätigt. Am 30. Januar 2020 rief die Weltgesundheitsorganisation (WHO) angesichts der Ausbreitung und schnellen Zunahme der Infektionen mit dem Coronavirus 2019-nCoV eine internationale Gesundheitsnotlage aus. Am 11. Februar 2020 schlug die WHO den Namen COVID-19 für die Infektionskrankheit vor. Im Januar 2020 entwickelte sich die Krankheit zur Epidemie in China und am 11. März 2020 erklärte die WHO die bisherige Epidemie offiziell zu einer weltweiten Pandemie…“

72 Tage insgesamt.

Und 41 Tage von der Ausrufung einer internationalen Gesundheitsnotlage bis zur WHO-Erklärung des weltweiten Pandemiefalls.

Gesetzt den Fall: Was würden Sie, liebe Leserinnen, in 41 Tagen anders machen?