16.02.2023 – Die Neunziger

Die Neunziger. Von Jens Balzer, u. a. Autor für DLF und Rolling Stone, der unter anderem mit Dietmar Dath und Sibylle Berg kooperierte (für Eingeweihte ein Qualitätsnachweis). Das Buch schildert mit starken popkulturellen Bezügen die Entwicklung der Neunziger vom Fall der Mauer bis zum 9/11-Anschlag auf das World Trade Center, von der Hoffnung auf ein neues Zeitalter der Freiheit, mit revolutionären Technologien wie dem aufkommenden Internet und weltweiter Digitalisierung bis zur Enttäuschung durch aufkommenden Nationalismus, Kriege in Europa (Jugoslawien) und den grenzenlosen Sieg eines hemmungslosen Neoliberalismus. Der Soundtrack dazu ist Techno, der sich seinen Siegeszug aus den räudigen Kellern des vereinigten Berlins in die ganze Welt bahnte . Paradigmatisch für die Zeit steht die Loveparade in Berlin, zu Beginn ein avantgardistisches, charmantes Spektakel von ein paar Idealisten. Am Ende Millionen durchgeknallter Drogenfreaks im zugedröhnten Konsumrausch, die den ganzen Tiergarten vollschissen.

Das Buch ist kenntnisreich, mit jeder Menge Erinnerungspretiosen, unprätentiös, aber unterhaltsam und gut geschrieben. Wer wissen will, wie unsere Gesellschaft so wurde, wie sie ist, findet hier jede Menge Futter. Und je nach lebensgeschichtlicher Verortung Rückbesinnung und Vergewisserung eigener kultureller Prägungen. Aus dem Alter für Techno war ich raus, aber unvergesslich ist mir mein Brechreiz angesichts eines riesigen Heeres von Deutschlandfahnen nach dem Fußball-WM Titel 1990. Damals war ich noch Fan des reinen Spiels, hasste aber natürlich jede Form von Nationalismus. Wer auch nur ein zweiseitiges Geschichtsbuch gelesen hat, weiß: Nationalismus ist immer ein Anfang von einem bösen Ende. Da kommt niemals was Gutes bei raus. Folgerichtig brannten ab da überall Flüchtlingsunterkünfte, Ausländerwohnungen und Asylantenunterkünfte. Hier zur Erinnerung das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen . Die Lektüre sollte allen, die sich Illusionen darüber machen, was heutzutage nicht mehr möglich sei, die Augen öffnen. Alles worüber wir denken können, wird möglich, auch wenn es nicht real werden muss. Die Bedrohung von Grünen durch Bauernmob am Aschermittwoch ist nur ein erster zarter Schritt.

Ich habe diesen ganzen „Das Ende der Geschichte“-Quatsch und „Alles wird Frieden, Freude, Eierkuchen“ von Anfang an für ideologischen Unsinn und zweidimensionale Verblendung gehalten. Hier eine Aktion des famosen Kunstkollektivs SCHUPPEN 68 (Gruß an Peter, unser damaliges Darsteller-Genius und treuer Blog-Leser. Das erste Bier im Hades geht auf meinen Deckel!)  vom Reichseinheitstag, dem 3. Oktober, 1990. Im damaligen hannöverschen Stadtmagazin Schädelspalter.

03.10.1990! Interessant, dass ich das Archiv-Fundstück mit Schreibmaschine (!) verschlagwortet habe. Für die Generation Internet und Smartphone ein ähnlich unvorstellbares Arbeitsgerät wie Fax, Kabeltelefon und Tonbandkassette, noch vor der Diskettenzeit. Es gibt übrigens keine Popgruppe mit dem Namen „Diskette“. Unglaublich.

 In der Aktion ist alles drin: Völkischer Nationalismus, grenzenloser Kapitalismus bis zum Organhandel, Minderheitenhass, Rassismus. Genial, wenn Sie mich fragen. Aber leider hat mich schon damals kaum jemand gefragt. Wir waren denn doch zu (links)radikal, avantgardistisch und dadaistisch, der Zeit um Äonen voraus

Das Buch hat einiges bei mir getriggert. Empfehlenswert. Est ist der dritte Band, nach den 70ern und 80ern, einer Reihe des Autors über eine Annäherung an die Gegenwart .

Und nun zum Wetter …

15.02.2024 – Das Erbsenkraut

Erbsenkraut.

Im Winter sind frische Kräuter Mangelware. Schnelle Abhilfe schaffen eine Handvoll Erbsen (keine Tiko!), 12 Stunden eingeweicht in kaltem Wasser, mit etwas Erde in Blumentopf oder auch einfach durchgefeuchteter Watte oder Toilettenpapier (unbenutzt!) in irgendeinem Gefäß in einem Plastikbeutel verschließen (Treibhauseffekt). Fertig. Nach zwei, drei Tagen keimen die Erbsen, dann können sie raus aus dem Beutel und entwickeln sich in weiteren drei, vier Tagen zum grünen Kraut (Das sind Richtwerte, bisschen probieren). Das Wunder der Photosynthese wandelt Licht in chemische Energie wie Zucker um und dafür braucht die Pflanze nur den blauen und roten Anteil des Lichtes, den grünen nicht, den spiegelt sie zurück. Also sind Pflanzen grün. Zuckersüß und intensiv schmeckt auch das Erbsenkraut. Ich hab’s vor Jahren mal in Delft (Porzellan und Vermeer!) kennengelernt, mittlerweile ist es Standard in der etwas gehobeneren Gastronomie. Als Salatbeilage, auf das Tomatenbrot, in die Suppe, wohin Sie auch wollen. Schnell verbrauchen, das schießt ins Kraut. Lecker, gesund und macht Spaß. Nichts geht über Eigenanbau, es hat auch etwas Kontemplatives, wenn man dabei zugucken kann, wie alles wächst und gedeiht. Bei meinen morgendlichen Zen-Meditationen im Garten verneige ich mich immer still begrüßend vor Bruder Hanf oder Schwester Radieschen. Was halt gerade anliegt. Im Moment ist es in der Küche eben Onkel Erbskraut.

Abgesehen vom Spaß kann sich diese Form von Subsistenzwirtschaft zukünftig zu einer bitteren Notwendigkeit für das Prekariat entwickeln. Im Zuge der Atombombendiskussion und der Finanzierung noch zu führender Kriege wird gerade medial der Rest unseres Sozialstaates sturmreif geschossen. Die diskutierten Summen für Sondervermögen zur Kriegsführung erreichen in wenigen Tagen schwindelerregende Höhen, schwupps, von 100 auf 300 Milliarden. Wie soll das finanziert werden?

 Ausschließen kann man eine Beteiligung der Reichen an der Finanzierung der Kriege, von denen sie profitieren, z. b. via Dividendengewinne bei Rüstungskonzernen. Eine Schuldenbremse ist unwahrscheinlich, mit CDU, FDP und AfD ist eine stabile parlamentarische 60 Prozent-Mehrheit dagegen. Also Haushaltskürzungen. Im Sozialhaushalt. Eine Agenda 2030 als Fortsetzung der Agenda 2010. Das wird dann die Demokratie zwei weitere Schritte zum Abgrund bugsieren; logisch, dass der Mob auf eine Demokratie scheißt, die in ihn ins Elend verfrachtet. Mit diesem Dilemma muss die Demokratie leben. Bis sie stirbt.

Die ursprüngliche Agenda 2030 ist übrigens, Zitat: „ … ein globaler Plan (der Weltgemeinschaft für nachhaltige Entwicklung) zur Förderung nachhaltigen Friedens und Wohlstands und zum Schutz unseres Planeten.“ Keine Armut mehr, kein Hunger… Wenn Sie die 17 Ziele lesen, die da 2016 festgelegt wurden, werden Sie vermutlich Tränen lachen

Das geht als Büttenrede durch.

14.02.2024 – Die Atombombe

Atomkrieg? Ja Bitte. Gesehen an meinem Kühlschrank. Der Aufkleber stammt aus einer Aktion vom Juni 2022 und kann bei mir bestellt werden. Der Magnet zeigt die feministische Künstlerin Niki de Saint-Phalle, die als Elfjährige von ihrem Vater vergewaltigt wurde.

Nach dem Menschheitsverbrechen des Holocaust hätten man denken können, dass die Deutschen zumindest für die nächsten 2.000 Jahre erstmal die Füße stillhalten würden. Es dauert gerade 10 Jahre, da waren deutsche Unions-Kalte Krieger wie Adenauer und Strauß („Lieber ein kalter Krieger als ein warmer Bruder“) derart erpicht auf die Menschheitswaffe Atombombe, dass die Amis als Bündnispartner regelrecht panisch reagierten. Die hatten kein gesteigertes Interesse an atomaren Konflikten mit den Sowjets. Im Rahmen der Berlinkrise, Zitat Spiegel online, leider hinter Bezahlschranke:

„ … warnte Kennedy Adenauer eindringlich vor »nuklearen Experimenten«, weil sie die Gefahr eines Krieges »drastisch erhöhen« würden. … Sollten die Deutschen die Bombe bauen, würde er wohl die US-Truppen aus Europa abziehen, sagte Kennedy dem britischen Verteidigungsminister. … Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges mit der Kubakrise 1962 nahm die Angst der Amerikaner vor den atomaren Ambitionen der Deutschen groteske Züge an. Offenbar traute man Strauß sogar zu, sich zur Not einfach US-Atomwaffen in Deutschland anzueignen….  Demnach habe das Militär ein bis dahin eher unscheinbares US-Depot mit taktischen Atomwaffen plötzlich zu einer Festung ausgebaut und deutlich schärfer bewacht. Nicht aus Angst vor den Russen oder anderen Spionen, sondern vor den Deutschen. …“

Groteske Welt, heute kann’s dem Ami gar nicht heiß genug zugehen bei seinen Bündnispartnern im Kalten Krieg und an vorderster Front zurrt sich kein Unionskrieger den Stahlhelm fester, sondern eine Sozialdemokratin, die EU-Spitzenkandidatin Barley. Was die Sache zusätzlich irre macht: Leider sitzt auf der anderen Seite am Roten Knopf kein Vernunft- und Interessengeleiteter Kommunist mehr, wie z. B. Chruschtschow, dem der Schrecken des Zweiten Weltkrieges noch qua eigener Erfahrung in den Knochen steckte, sondern ein offensichtlich immer durchgedrehterer Nationalist Putin, befeuert von religiösen Wahnvorstellungen und Allmachtsphantasien. So weit ersichtlich unterliegt der Irre auch keiner institutionellen Kontrolle, anders als Chruschtschow, der schließlich im Widerstreit einzelner Machtgruppen und Fraktionen der kommunistischen Partei unterlag und abgesetzt wurde. Das Prinzip von „Checks and Balance“ funktionierte auch auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, nur anders als bei „uns“. Aber bei Putin ….?

Die Atomwaffen-Diskussion wird also Fahrt aufnehmen. Welche Folgen das für das gesellschaftliche Klima hier haben wird, ist nicht abzusehen. Früher entstand aus der oben skizzierten irren Gemengelage die Friedensbewegung, daraus die Grünen und letztlich der neue Nationalismus. Da hatten wir aber noch keine tief gespaltene Gesellschaft wie heute, es ging ökonomisch fast nur bergauf, kaum Armut, keine massenhaften Faschisten, keine Seuchen, wenig Inflation, Kriege fanden weit weg statt, mal ne kleine Ölkrise, aber Klima war ansonsten prima.

Wenn der von Polykrisen dauerhaft überlasteten und tief verunsicherten Gesellschaft jetzt zusätzlich noch eine Atomwaffendiskussion aufs Gemüt gedrückt wird, kann ich den werten Leserinnen nur empfehlen: Investieren Sie in Pharmaaktien, Psychopillen werden boomen. Immer den Markt fragen. Der Xtrackers MSCI World Health Care ETF bildet weltweit Aktien ab, die mit Gesundheit zu tun haben, Firmen wie Eli Lilly, Merck etc., zu 50 Prozent ist dieser Fond in Drug Manufacturers investiert. Dieser ETF hat in den letzten 5 Krisenjahren um fast 70 Prozent zugelegt. Besser läuft nur die Rüstungsbranche.

Kaufen, meine Damen!

13.02.2024 – Narhalla Marsch und kotz in den Eimer

SCHUPPEN 68 Rosenmontagswagen. Klein aber fein, divers, alternativ und CO2-neutral.  Auch dieses Jahr war die Narrenzunft „SCHUPPEN 68 Helau, Alaaf und leckt uns am Arsch e. V.“ wieder mit einem eigenen Wagen am Start des berühmten hannöverschen Rosenmontagsumzuges. Frohsinn ist unser Leben! Getreu diesem Motto waren wir natürlich alternativ und klimaneutral unterwegs. Die Kamellen waren wie üblich selbstgemacht, dieses Mal steckte in jeder Kamelle ca. 100 Mikrogramm LSD. Was sich daraufhin auf den Straßen abspielte, spottet jeder Beschreibung. Deshalb lasse ich die.

Karneval ist nicht meine Welt. Ich kann damit nichts anfangen. Aber auch Kirchen und Klöster sind z. B. nicht meine Welt, deshalb suche ich im Urlaub trotzdem welche auf, wenn es passt, und fühle mich dort mitunter wohl, verweile dort auch. Es ist eine andere Form von Kultur und wer für andere Formen, Kulturen nicht wenigstens ab und zu offen ist, der verdorrt langsam wie ein Olivenbaum ohne Wasser. Also war ich auch schon auf Karnevalssitzungen und hab mir sowas auch im TV angeguckt.

Dem Karneval eilt qua Geschichte der Ruf voraus, Obrigkeitskritisch zu sein, sich mit denen da oben anzulegen. Also Trittrichtung nach oben, wie sich das auch für Satire gehört, sonst ist sie keine, sondern Comedyquatsch. Alternative Formen von Karneval kenne ich nicht, nur die Amtlichen.

Und die sind aus meiner Sicht geschmackfreies Grauen, an Plattheit, Harmlosigkeit (Scholz mit Augenklappe auf Karnevalswagen, wie rebellisch!) und reaktionärem Stumpfsinn kaum zu überbieten. Das war vor Jahrzehnten so und ist heute noch genauso. Es muss nicht offener Rassismus sein, wie in Sachsen , der da marschiert. Fünf Minuten Köln am Rosenmontag im TV reichen. Der Karneval, so wie ich ihn  kenne, tritt meist nach unten, gegen alles, was bunt, divers und Minderheit ist. Außerordentlich hässliche Männer in der Bütt, die nüchtern und bei Verstand niemand auch nur mit einer Kneifzange anfassen würde, machen misogyne Witze über hässliche Schwiegermütter, geschminkte Tussis und antiautoritäre Erziehung. Das war vor Jahrhunderten so. Und gestern genauso, im Kölner Karneval im TV.

Ein außerordentlich hässlicher Mann mimte einen Betrunkenen, was für ein origineller Brüller, und pöbelte gegen eine grellgeschminkte „Tussi“ an irgendeinem Büffet im Urlaub, wo er mit seinen Kumpels Manfred und Ernst abhing. Das klassische Reinheitsgebot frauenverachtender doitscher Männer: Ein doitsches Mädel hat blitzsauber zu sein und adrett, gefälligst ungeschminkt. Das darf sie dann höchstens im Bordell sein, das die volltrunkenen außerordentlich hässlichen Manfreds und Ernsts dann nach dem Büffet gerne aufsuchen. Danach kam noch irgendwas Witz- und Geistloses gegen ein Lehrerehepaar in Jack Wolfskin-Klamotten am Büffet, dessen Kind aus Milchreis einen Schneemann bauen durfte, weil es, Achtung Brüller: Antiautoritär erzogen wird. Tusch und Narhalla Marsch.  Da weht aus der Unterhose des Betrunkenen der Geist der Fünfziger, von Fips Asmussen und seinen Widergängern wie Mario Barth, Dieter Nuhr. Mehr ertrug ich nicht und zappte weg.

Das alles wäre kaum der Rede wert, wäre es eine Nische, ein Sonderfall deutscher Kultur. Das ist es aber, so wie Kirchen und deren Ideologien, nicht. Das finden Millionen witzig, wird zur Prime Time im Öffentlich-Rechtlichen gesendet, das ist Teil ihres Alltags, ihrer Identität. Und jeder, der das kritisiert, versteht keinen Spaß. Und bei sowas versteht der doitsche Volksgenosse nun wirklich keinen Spaß. Vor dem Hintergrund dieser Dispositionen und Mentalitäten darf sich niemand wundern, wenn die AfD z. B. in manchen Plattenbaubezirken, sozialen Brennpunkten in Ostberlin über 50 Prozent erreicht hat.

Und das ist, keine Bange,

noch lange nicht das Ende dieser Fahnenstange.

Narhalla Marsch und kotz in den Eimer.

12.02.2024 – Über den Unterschied von „relativ“ und „absolut“ und warum wir in Zukunft statt „besoffen“ „unkooperativ“ sagen

Die Realität macht Heute schon viel möglich. Gesehen bei der hannöverschen Gesundheitswoche im ehemaligen Kaufhof.

Mit sowas versucht man die Cities zu revitalisieren. Die großen Kaufhäuser in den Innenstädten machen reihenweise dicht, diese verkommen zu seelenlosen Zombiezonen. Nicht umsonst spielt eine der großartigsten filmischen Kritiken am Kapitalismus in seiner Kathedrale, einem Einkaufszentrum. Es handelt sich um „Zombie“ (1978!) von George Romero .

Auch da hat es Berlin besser, es besitzt keine Innenstadt oder City. Es gibt höchstens Zentren der 12 Bezirke, die jeweils Großstädte von der Größe Mannheims sind, nur wesentlich lebendiger. Ich war einmal da und kann mich an Nichts erinnern, außer an eine Äppelwoi-Schänke, und das war nicht in Mannheim.

Wobei das mit den Bezirkszentren in Berlin so eine Sache ist. Wenn man einem SO 36-Kreuzberg Autonomen erzählt, das Kreuzberg-Zentrum sei die Bergmannstr. im gentrifizierten Kreuzberg-Westen, packt er gleich den Molli aus. Er wird vermutlich auf Rio-Reiser-Platz mit Oranienstr. insistieren. Wie auch immer, Dezentralität ist eine Chance und Berlin nutzt sie, während es nach wie vor kein Rezept gibt und geben kann zur Wiederbelebung der Innenstädte der Republik. Das geht nur auf Basis massiver Eingriffe in die Eigentumsstruktur, anders geht eine radikale Umgestaltung zu mehr Arbeiten, Wohnen und Leben in den Cities nicht. Und diesen Eingriff lässt unsere Verfassung zwar theoretisch zu auf Basis § 14 und 15 GG, der ist aber in der Praxis nicht realisierbar, das geben die Macht- und Profitinteressen hier nicht her. Das Karstadt-Gebäude in Hannover steht seit vier Jahren aus Spekulationsgründen leer und es ist nicht im Ansatz irgendeine Entwicklung zu sehen

Berlin, Du hast es besser. Berlin ist so gut, dass es die einzige Großstadt der Republik ist, in der zweimal zur gleichen Wahl abgestimmt werden darf. Die schönste Panne der Wahl gestern: Ein Wahlvorstand war so besoffen, dass er abgelöst werden musste. Wir in Berlin sagen aber nicht besoffen, sondern „unkooperativ“.

Die Wahl ist ein bemerkenswertes Stimmungsbarometer. Die Gesamtverschiebungen sind zwar minimal. Aber relativ gesehen, also auf die paar Wahlbezirke, in denen überhaupt nur gewählt wurde, ist das Ergebnis für SPD und FDP eine Katastrohe. Die SPD verlor ca. ein Drittel und die FDP fast zwei Drittel ihrer Prozentanteile. Die AfD konnte ihr Ergebnis um ca. 40 % steigern und legte relativ gesehen mehr zu als bei den letzten Landtagswahlen in Hessen und Bayern. Und da hatte sie schon enorm gewonnen im Vergleich den vorherigen Landtagswahlen.

Sie können die relativen Verschiebungen hier in der Grafik ablesen

Insofern sind mir jene Kommentare rätselhaft, die nur die absoluten Verschiebungen von ca. 1 Prozent erwähnen. Diese Aussage ist ohne die Relationen und Bezugsgrößen völlig bedeutungslos.

Der Wahlerfolg der AfD zeigt auch den Effekt auf ihre Mobilisierung der bisherigen Millionendemos gegen Rechts: Praktisch gleich Null. Der einzige wirksame Effekt wäre eine Beteiligung der Wagenknechte an der Wahl gewesen, aber die waren aus rechtlichen Gründen noch nicht zugelassen.

11.02.2024 – Die Marx Brothers im Krieg oder: Kein Film ist so verrückt wie das Leben.

Närrische Zeiten. Ich bin mal auf die Ostermärsche heuer gespannt. Wie zerrissen wird sich diese Bewegung darstellen? Alle wollen Frieden. Aber um welchen Preis? Was ist wichtiger, Frieden oder Freiheit? Gibt es den gerechten Krieg? Wie verhalten „wir“ uns, wenn der Russe kommt? Der Böse ist ja immer der Russe, während die Nato eine Art Friedenscamp von Späthippies darstellt – Motto: Love and Peace -, die (noch) nichtkiffende Fraktion der Friedensbewegung. Wer was anderes behauptet oder das auch nur in Ansätzen relativiert, wird bei uns niedergemacht. Bildlich gesprochen. Natürlich ist Putin ein Imperialist, Chauvinist, und gehört vor ein Kriegsgericht, aber in diesem Stück gibt es mehrere Schurken. Das Leben ist nicht schwarz/weiß, sondern mitunter schwarz/schwarz, Gauner und Lumpen, wohin man blickt. Der Westen hat mit seinen komplett gescheiterten Interventionen in den letzten Jahren allein im Irak, Libyen, Afghanistan eine blutige Spur hinterlassen, bei der sich man sich fragt, was hat sich dadurch in den Regionen verbessert?

Das kann man im Hinterkopf haben, wenn man die Schlagzeilen der letzten Stunden liest. Wer zu Verschwörungstheorien neigt, kann hier eine abgesprochene Choreographie vermuten. Ich tue das nicht. Ich halte die Welt für so verrückt, dass sich das von selbst orchestriert. Es ist wie im Western:

In der Exposition wird die Bedrohung für die Guten ausgemalt und der Antiheld eingeführt, Putin, wer sonst. Der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz (das ist eine Art Workshop für Friedenscamps, wo sich die Oberhippies regelmäßig zum großen Ratschlag treffen) hält einen russischen Angriff auf Nato-Gebiet für nicht ausgeschlossen.

Nun folgt im zweiten Akt der Gute, der das Rettende am Horizont sieht und das zögernde Fußvolk von den Mühen und Opfern überzeugen muss, die dieser Weg kostet: Der Generalinspekteur der Bundeswehr (ein Häuptling mit ganz vielen Federn im Kopfschmuck) will, dass wir in fünf Jahren kriegstüchtig sind.

Im dritten Akt tritt der Bösewicht auf. Er hat Kreide gefressen und heuchelt, alles nicht so schlimm: Putin will Polen nicht überfallen . Es sei denn, Polen greift Russland an. Also alles gut? Nein, wir Zuschauerinnen sehen jetzt aus dem Hintergrund eine dunkle Gefahr nahen. Für die Angriffslust des Polen gibt es historische Parallelen, schließlich hatte der Pole ja auch schon Hitler überfallen, der Überfall auf den Sender Gleitzwitz , laut anderer Quellen auch Leihwitz, und damit den Zweiten Weltkrieg ausgelöst, den Hitler unbedingt vermeiden wollte. Er war ja nicht nur Vegetarier, sondern auch Pazifist, weshalb ich damals bei den Friedensdemos in den Achtzigern immer skandierte: Deutsche Pazifisten, Mörder und Faschisten. Das zeigt der Film, der nun immer irrer wird und dem Leben näher kommt, in Rückblenden.

 Im vierten Akt des Westerns macht sich unter der Bevölkerung Hoffnungslosigkeit breit: Wenn der Russe kommt, wird uns der spätere Oberhäuptling Trump nicht nur nicht helfen, sondern seinen Buddy Putin noch ermutigen, uns platt zu machen Das Weiße Haus findet diese Ermutigung zwar ungeheuerlich und völlig verrückt, aber wer diplomatische Gepflogenheiten kennt, weiß: Da, wo ein Dementi oder eine wie auch immer geartete Stellungnahme erfolgt, ist was dran.

Im fünften und letzten Akt kommt aus der Ferne unter Fanfarenstößen die rettende Kavallerie angeritten. In unserem Filmfall die Marschkolonnen der österlichen Friedensdemos, die intonieren: Give peace a chance.

Als Hauptdarsteller für diesen Film hätte ich gern die Marx Brothers, die Inszenierung sollte ihrem Meisterwerk „Duck soup (Die Marx Brothers im Krieg)“ entsprechen.

Sie fragen, ob ich eventuell zu viel gekifft hätte? Die Antwort gibt’s am 1. April. Da wird Cannabis legal. Prost einstweilen.

10.02.2024 – Mit einem Erdbeben beginnen und sich dann langsam steigern

Wo aber Winter ist, wächst das Hoffende auch. Gestern im Garten auf dem Weg zum Mülleimer gesehen. Es gibt also doch ein Leben jenseits von Schneeregen, Kälte, Matsch und Dunkelheit. Das kann man auch nur für die aktuelle Nachrichtenlage hoffen. Gibt’s da irgendwas mit Hoffnung? Beim Klima ist alles noch schlimmer als befürchtet, das 1,5 Grad Ziel ist jetzt schon übertroffen, für Wirbelstürme reicht die alte Skala nicht mehr aus . Und was die AfD angeht, einen besseren Zeitpunkt für die Correctiv-Enthüllungen hätte es für die nicht geben können. Die Großdemos gegen Rechts rutschen jetzt schon langsam in den News nach hinten, ob da eine nachhaltige antifaschistische Kampagne draus wächst, ist offen bis fraglich, und bis zu den nächsten Wahlen, EU im Juni und im Osten im September, hat sich die Gesellschaft weiter an bisher Unsagbares gewöhnt. Die Mitte schläft weiter den Schlaf der Ungerechten…

Der bürgerlichen Mitte fehlt es qua genetischer Verankerung an antifaschistischer Radikalität, wie die quälend langsame Reaktion der Berliner Filmfestspiele auf die Einladung von AfD-Politikern zur Eröffnungsgala zeigte . Erst nach tagelangen öffentlichen Diskussionen konnte sich die Festivalleitung zu einer Ausladung der AfDler durchringen. Wissen die nicht, wie Faschisten mit „entarteter“ Kunst und deren Protagonisten umgehen?

Noch gruseliger die Reaktion der Berliner FU und der zuständigen SPD (!)-Senatorin auf den Überfall eines Studenten, der einen jüdischen Kommilitonen krankenhausreif prügelte. Dass die Verantwortlichen dieser schändlichen Stellungnahmen noch immer im Amt sind, zeigt wie es um den deutschen Antifaschismus bestellt ist: Erbärmlich. Und was für die Zukunft zu erwarten ist: Phrasen und Floskeln.

Die Existenz der Wagenknechte scheint der AfD ein paar Prozente in den Umfragen abgenommen zu haben, die Demos haben mit diesem Prozess nichts zu tun. Hier kann man seine Übereinstimmung mit Positionen der Wagenknecht-Partei prüfen. Bei mir lag sie höher als gedacht ….  Aber doch noch niedrig genug….

Und wo bleibt das Positive? Kultur, die große Trösterin, liefert da zuverlässig. Unlängst auf rbb ein kurzer, schöner Dokumentarfilm über die bekannteste deutsche Streetgang, die ehemaligen türkischen Kreuzberger „36 Boys“, benannt nach dem rauen SO 36-Teil des Kiezes, rund um den Kotti.

Der Film ist auch ästhetisch gelungen, das 40-Sekunden-Intro der ersten Film-Takte setzt das Leitmotiv, laut, rau, lebendig, kämpferisch, bunt. Ich sitze manchmal länger am Kotti, mit türkischem Tee oder Berliner Bier, Wein gibt’s da weniger, lasse die Bilder, die Symphonie eines Kiezes auf mich wirken. Oft hässlich, abstoßend, vor allem, wenn man z. B. gerade aus der Neuen Nationalgalerie gekommen ist. Aber es sind immer lebendige Erzählungen, mit Aura. Kaum Menschen, die der Norm entsprechen. Berlinerinnen fahren hier nur durch und Touris sind höchstens kurz auf Grusel-Sightseeing. Die Mauern hier sind nicht sprachlos im Winde, sie raunen Geschichten

Und wenn dann noch im Film Deutschlands berühmtester Sternekoch Tim Raue erzählt, wie er Mitglied der 36 Boys wurde, also, das hat was …. Sein Lokal liegt nur zwei autonome Steinwürfe entfernt vom SO 36-Herz, der Oranienstr. Eins meiner letzten Dinge, wenn der Arzt mir eröffnet: „Der Monatsletzte ist auch Ihr Letzter“ wäre ein Besuch bei Tim Raue . Es muss ja nicht gleich der 2019er Montrachet Grand Cru für 12.000 Ocken sein….

Ein Film muss mit einem Erdbeben beginnen, und sich dann langsam steigern . Ich ergänze: Und mit einem Vulkanausbruch enden.

Das gilt auch für Rock‘ n Roll, siehe Beispiel-Intro hier, 30 Sekunden, bis der Gesang einsetzt (nach hinten raus zuviel Gitarrengegnidel, aber das Intro bleibt …). Die Band kann man im Sommer in der Spandauer Zitadelle begutachten. Pars pro Toto sind die Aussichten doch nicht völlig trübe. Den Scherz musste ich mir einfach gönnen ….

08.02.2024 – Die Pforten der Hölle tun sich auf! Denn siehe, es ist Karneval!

Ei verflixt, was hammer da?
Ein pappbenastes Ehepaar!

Gewerkschaftsnarren bis zur Kenntlichkeit verkleidet,

was in mir Übelkeit verbreitet.

Die Nas von der Yasmin vom DGB

Ist fast so blau wie unsre AfD.

Der Michel von der IG BCE

Trägt Klassenkampfes Rot! Juchhe?

Real ist’s damit nicht weit her,

Der Michel ist reaktionär.

Er findet, und ich mach da keine Witze!,

Kohlenergie ganz einfach spitze.

Oben Zeitungsbericht von einer diesjährigen Sitzung hannöverscher Karnevalsterroristen. Die Bildung von auch und gerade terroristischen Banden, und um eine Narrenbande handelt sich ja, ist laut § 129a StGB verboten . Dort heißt es: „Wer eine Vereinigung (§ 129 Absatz 2) gründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind,   Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 des Völkerstrafgesetzbuches) … zu begehen, oder wer sich an einer solchen Vereinigung als Mitglied beteiligt, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.“

Das oben Geschilderte stellt unzweifelhaft ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar. Ich war selbst schon undercover auf solchen Sitzungen und was da abgeht, ist unmenschlich. Ergo habe ich Strafantrag gestellt. Ich halte Sie auf dem Saufenden. (Narhalla Marsch )

Übrigens wird im Deutschen bis ins StGB hinein Menschlichkeit und Menschheit verwechselt. Selbstverständlich muss es immer heißen „Verbrechen gegen die Menschheit“. Menschlich handele ich, wenn ich alte Leute über die Straße bringe oder einer Dame aus dem Mantel helfe. Das hat aber nichts mit Mord und Massenvernichtung im Sinne von Menschheitsverbrechen zu tun. Ursache: das englische „humanity“ bedeutet im Deutschen sowohl „Menschlichkeit“ als auch „Menschheit“ und da war den Deutschen angesichts ihrer Vergangenheit in Sachen „Menschheitsverbrechen“ wohl blümerant, deshalb die falsche Anwendung. (StGB 129a an dieser Stelle ist gestrichen, da lag ich falsch.)

Wir beschließen das heutige Elend mit dem schönen Satz aus obigem Artikel von Herrn Anda , ehemaliger Gerhard Schröder-Buddy, rotgrüner Regierungssprecher, stellv. Bild-Chefredakteur, Pressehure beim AWD-Gauner Maschmeyer: „Der Karneval bringt Menschen zusammen und erzeugt ein Gemeinschaftsgefühl.“

Das haben die Nürnberger Reichsparteitage auch.       

Und was lief noch so früher beim Karneval: Der Nürnberger Rosenmontagszug 1938 stellte einen am Galgen baumelnden Juden dar.

Damit Sie, liebe Leserinnen, angesichts meiner Ein- und Auslassungen nicht völlig Trübsal blasen, was Fröhliches zum Schluss, eine Karnevalsaktion vom Oberscherzkeks, auch als Satire-Titan und Blödel-Barde bekannt, von 2012.

Narhalla-Marsch!

07.02.2024 – Das perfekte Dinner

Das einzige Format, was ich mehr als einmal komplett angesehen habe, ist „Das perfekte Dinner“ . Das würde ich auch nicht als Trash bezeichnen, vielmehr ist es eine kommunikative Idee, unterschiedliche Leute zum Kochen und Essen zusammen zu bringen, die sich vorher nicht kannten. Die dafür zuständige Castingagentur ITV Studios Germany produziert unter anderem auch „Das Dschungelcamp“ und rief nach erfolgreichem Telefoncasting noch Jahre später bei mir an, wenn die Sendung wieder in meiner Heimatstadt gedreht wurde, ob ich nicht Lust hätte, dabei zu sein. Kein Wunder, hatte ich beim Interview doch drauflos schwadroniert, dass ich begeisterter Anhänger der molekular inspirierten Küche eines Ferran Adrià sei (Damals schwer in Mode) blablabla riesengroße fünfundvierzig Quadratmeter große Küche mit Veranda zum Garten hin, in dem eigene und zeitgenössische Plastiken ihr Domizil gefunden haben blablabla ich würde als Kabarettist und Künstler ein Feuerwerk der Kochinszenierung abbrennen … . Wenn ich nicht vorher meine Küche abbrenne, hahaha….“ Humor kommt immer gut an.

Ich hatte leider nie Zeit. Respektive mache ich mich für maximal tausendfünfhundert Euro Gewinn bestimmt nicht zum Hanskochwurst der Nation.

Falls Sie, liebe Leserinnen, Lust und Interesse haben, sich für TV Castings zu bewerben, ich coache Sie gerne, einfach melden, und dann geht’s online los. Es gibt ein nur zwei grundsätzliche Regeln: 1. Wahrheit und Kompetenz spielen keine Rolle. 2. Sie müssen drei Eigenschaften besitzen: Unterhaltsam sein, unterhaltsam sein, unterhaltsam sein.

Wenn Sie im Casting erzählen, Sie seien naturlieb und würden gerne lesen und vom Gewinn  eine Urlaubsreise finanzieren, sind Sie sofort aus dem Rennen. Niemand will im TV die Trost- und Phantasielosigkeit der eigenen Existenz gespiegelt sehen. Wenn Sie dagegen erzählen, Sie besitzen den einzigen Witz-Verleih der Welt und würden mit einem möglichen Gewinn Ihre vor Jahren abgerissene eigene Kleinkunstbühne wieder aufbauen, können Sie so dumm wie Dosenbrot sein: Sie werden sofort Kandidatin für jedes TV-Format.

Bei der Lektüre meines Manuskriptes zu „Bauer sucht Frau“ und anderem TV-Müll von 2012 ist mir aufgefallen, wie sehr sich die Zeiten geändert haben. Natürlich gab es auch damals schon Kriege und Krisen, die Lehmanpleite mit der schweren globalen Finanzkrise wirkte noch nach . Aber wir waren nicht im Dauerzustand permanenter, sich überlagernder und gegenseitig verstärkender Polykrisen, Kriege waren weit entfernt und Seuchen ein Thema für Science-Fiction-Filme . Jetzt haben wir Armut ohne Ende, Rezession, Inflation, der Russe marschiert demnächst ins Baltikum ein, bei uns gibt’s dann Mobilmachung und die nächste Monsterseuche kommt sicherer als das Amen in der Kirche

2012 waren wir Teil der Documenta. . Dass die 10 Jahre später im Antisemitismus-Sumpf versinken würde, war damals kaum vorstellbar. Und mittlerweile ist Faschismus eine reale Gefahr.

Demzufolge ist das Manuskript durchaus unterhaltsam, aber zu unkritisch, zu lau. Der Kapitalismus – und dazu gehört die Verblödungsindustrie an hervorragender Stelle – ist dauerkrisenbedingt in den letzten Jahren offensichtlich in ein neues Stadium geraten, für das wir erst in der Retrospektive einen Begriff finden können. Ist jetzt schon Endzeit? Der radikalen Entwicklung des letzten Jahrzehnts muss eine radikale Kritik der bestehenden Verhältnisse folgen. Ob die was ändert, ist eine andere Frage. Aber ohne die ändert sich nie was.

2012 – 2024 …. Bleibt die Frage: Worüber reden wir in weiteren 12 Jahren?

06.02.2024 – Bauer sucht Frau, Teil 4

Bauer sucht neue Landmaschine

Bei aller kritischen Medienperspektive im Rahmen meiner Casting-Interventionen, die ich als Kunstprojekt deklarieren würde im Sinne einer sozialen Plastik :  Das Ganze hat einen Riesenspaß gemacht und war ein unbezahlbares Training im Erwerb kommunikativer Kompetenz. Das war die Hohe Schule der Improvisation, vergleichbar nur mit Üben im Ernstfall, nämlich beim Kabarett live auf der Bühne. Getreu dem alten Mucker-Motto: Wer übt, ist feige.

Unser ganzer Alltag, so strukturiert er auch sein mag, ist eine unablässige Folge von Improvisationen, also der permanenten, meist blitzartigen, Entscheidung zwischen mehreren Varianten die Bestmögliche zu wählen. In einem Vorstellungsgespräch, beim Smalltalk, beim Flirten, einer Podiumsdiskussion, beim Bestattungsunternehmer, überall müssen Sie meist in Lichtgeschwindigkeit einen oder mehrere Schalter umlegen können. Und das sind nur reine Gesprächssituationen. Wenn wir das ganze nonverbale Gedöns mit einbeziehen, wird’s unendlich. Und Improvisation wirft einen ungefilterten Blick in das Innere. Erkenne Dich selbst durch Improvisation …

Bei „Bauer sucht Frau“ war ich auf meinem Zenit. Und antwortete auf die Frage, wie ich mich selbst beschreiben würde, wie folgt ….

Unveröffentlichtes Manuskript, Kapitel 4 „Bauer sucht Frau“. Auszug, Teil 4 :

Ich hatte Oberwasser, war mit mir im Reinen und fand es an der Zeit, noch mehr meiner positiven Eigenschaften ins rechte (demnächst Scheinwerfer-?) Licht zu rücken:
„Ich bin jedenfalls keiner dieser normal maulfaulen Eichsfelder, die schon erschöpft sind, wenn sie „Guten Morgen“ gewünscht haben. Ich unterhalte mich gerne und interessiere mich für Kultur.“ Fehlte nur noch eins:
„Was ist Ihr Lieblingsgericht?“

Endlich mal in die Nähe der Wahrheit ….:
„Kohlrouladen. Mit Schokoladenpudding hinterher.“

Da war aber noch was:
“Womit könnte Sie Ihre zukünftige Bäuerin überraschen“?

Souverän spielte ich die Kulturkarte aus:
„Mit einer Eintrittskarte für das Stadttheater Göttingen, wenn Christine Neubauer da auftritt.“

Schon wieder die Doppel-D-Diva …

Göttingen ist die größte Stadt in Eichsfeldnähe und hat tatsächlich ein Theater, wie ich im Nachhinein feststellte. Oh glückliches Deutschland, das Du Deine Regionen noch so üppig mit subventionierten Kultureinrichtungen versorgst! Da erbleicht der Angelsachse vor Neid.

Abschlussfragen, was ich denn am bäuerlichen Dasein so schätzte, meisterte ich ebenso souverän wie die, welche Arbeit ich denn nicht mögen würde. Ich spendierte mir flugs einen Wald und daher:
„Holz fällen. Das ist mir zu gefährlich, da braucht man Erfahrung. Wenn da mal ein Ast auf Spannung steht und falsch angesägt wird, dann ‚Gute Nacht, Christine’.“

Wir näherten uns dem Ende, nie hatte mich ein Auftritt oder Casting mehr gefordert:
„Wie sind Sie denn bei der Suche nach einer Frau auf ‚Bauer sucht Frau’ gekommen?“

Mittlerweile hatte die gespielte Rolle mein wahres Ich geentert, ich war eins mit dem Bauern in mir und ehrlich erstaunt:
„Aber das ist doch ein gängiges Verfahren.“

Danach ging es überwiegend ums Procedere, ich müsste einverstanden sein, dass ein Kamerateam uns zehn bis zwölf Tage begleiten würde und bis Drehbeginn Stillschweigen bewahren.

Eine Frage wurde allerdings ausführlicher als alle anderen diskutiert und kam offensichtlich nicht unabsichtlich zum Schluss:

„Wie sehr sind Sie von der Meinung anderer abhängig?“

Mir war klar, worauf das zielte: In diesen Doku Soaps und Casting-Shows werden Menschen vorgeführt, mitunter vor Millionenpublikum zum Narren gemacht und gedemütigt.

„Wie sehr sind Sie von der Meinung anderer abhängig?“

bedeutet: Mach Dir klar, dass das Leben nach Deinem Fernsehauftritt weitergeht, dass Du auch zukünftig in Deinem Dorf leben musst, dass Du Dich vor Millionen zum Deppen machen und von Deinem sozialen Umfeld mit Häme und Spott überzogen werden kannst und als Konsequenz behandlungsbedürftige psychische Probleme kriegst, wie es bei „Bauer sucht Frau“ schon passiert ist. Dieser Teil des Telefoncastings war wie eine Aktennotiz, die man im Geschäftsleben anfertigt, um im Pannenfall später dokumentieren zu können:

„Der Proband wurde auf die Folgen seines Handelns hingewiesen.“

Die Macht der Bilder ist natürlich größer als gesprächsbasierte Aktennotizen. Mir ist es ja auch egal, ob ich mich im TV zum Affen mache, obwohl ich das Prinzip der Verblödungsindustrie kritisch-intellektuell bis in die letzten Wirkmechanismen so durchdrungen habe, dass es anno 68 bei Adorno für eine Doktorarbeit gelangt hätte.

Eine Woche nach dem Telefoncasting hatte ich einen Anruf der DEF Media auf meinem Anrufbeantworter, in dem um Rückruf in Sachen Termin für ein Kameracasting auf meinem Hof gebeten wurde.

Ich zog die Reißleine und sagte höflich per E-Mail ab, ich hätte auf natürlichem Wege die Bäuerin meines Herzens gefunden.

Ich hatte noch viel Arbeit vor mir. Auf mich warteten „Tine Wittler – Einsatz in vier Wänden“, „Peter Zwegat – Raus aus den Schulden“, „Vera Int-Veen – Verzeih mir“ und „Helena Fürst – Anwältin der Armen“.

Und das „Perfekte Dinner ….“