28.04.2022 – Ohne Moos nichts los


Ich hab im Garten Moosplatten gepflanzt an schattigen Stellen. Alle eingegangen. Für Moos hab ich kein Händchen. Ans Moos wird es aber vielen gehen, wenn die nächste Rezession hereinspaziert. Ante portas ist sie schon, sie klopft mittels Gashahn an, den der Russe uns demnächst abdreht. Dann wird ein wüstes Hauen und Stechen einsetzen, in welcher Reihenfolge welchen gesellschaftlichen Gruppen und ökonomischen Sektoren zuerst der Hahn abgedreht wird. Private Endverbraucher, Industrie, öffentlicher Sektor, Brauereien ….?
In neoliberaler Logik regelt sowas der Preis. Die Preise werden natürlich explodieren, im Moment explodiert ziemlich viel, und wer nicht mehr zahlen kann, kriegt keinen (Energie-)Stoff mehr. Ganz so rabiat wird der Staat nicht vorgehen, weil ihm sonst der Laden eventuell um die Ohren fliegt. Aber interessant werden auch die Verteilungskämpfe innerhalb der Kapitalfraktionen, zum Beispiel Chemie vs. Autoindustrie. Chemie brauchen wir permanent für laufende Prozesse, Schmierstoffe im wahren und übertragenen Sinn. Aber Autos? Denkbar wäre also ein Produktionsmoratorium für die Autoindustrie mit ihrem riesigen Energiebedarf.
Aber wie reagiert der Auto-Mob darauf? Gibt es dann Demos von SUV-Käufern, die ein Menschenrecht auf Lieferung ihrer bestellten Panzer verletzt sehen? Auf jeden Fall wird die gewerkschaftlich gut organisierte Facharbeitergang der IG Metall auf den Straßen unterwegs sein, wenn denen Kurzarbeit Null droht. Da werden sich Kapital wie VW, BMW etc. und Staat die Differenz zwischen Kurzarbeitergeld und letztem Nettolohn wohl teilen, um den gemeinen Facharbeiter wieder von der Palme resp. Straße zu holen. Wieviel dann fürs Prekariat übrig bleibt ….? Die Verteilungskämpfe zwischen den Fraktionen Chemie und Auto sind schon in vollem Gang. Gerüchteweise sollen sich die Spitzen der auf Co-Management zurechtgestutzten zahnlosen Gewerkschaften IG Metall und IG BCE hinter verschlossenen Türen schon wie Kesselflicker in die Wolle kriegen. Von dieser gekauften Renegatenclique, diesen Bettvorlegern des Kapitals, darf sich der klassenbewusste Revolutionär nicht aufhalten lassen.

Sein Platz am 1. Mai ist auf der Straße! Echt nur mit roter Nelke! Heraus zum 1. Mai. Und zum 2.! Schafft ein, zwei, drei, viele 1. Mai.
Scheißt der Hund im Mai, ist der April vorbei.

27.04.2022 – Blick in die Zukunft


Sieht es in unseren Städten demnächst so aus? Der Begriff „Atomwaffen“ hat mittlerweile Inflation und die Tatsache, dass deren Einsatz das Ende des Lebens, wie wir es kennen, bedeutet, verblasst hinter dem inflationären Gebrauch. Mir schiene es angebrachter mehr zu schildern, wie ein postatomares Armageddon aussähe. Zum Beispiel mit Bildern von Hiroshima und Nagasaki. Oder häufiger über Formen zivilen Widerstandes und Friedensstrategien zu diskutieren statt über die Panzerungen von Gepard, Leo, Tiger, Pitbull oder wie die Panzer alle heißen mögen.
Stattdessen eskaliert immer schneller die Nachrichtenlage. Gestern: Transnistrien, demnächst Krieg in Moldau, mögliche russische Angriffe auf westliches Personal in Kiew, deutsche Panzer in den Osten, Lawrow Atomkrieg. Ich fand es gruselig und bin nur dankbar, dass ich mittlerweile Krisenresistent bis abgestumpft bin.
Die letzten Weltkriege sind nicht vom Himmel gefallen, sondern waren auch das Ende einer langen verbalen Eskalationsspirale. Nach Rüstung kommt Krieg? Sicher. Aber auch: Nach dem Ende einer Friedensdiskussion kommt Krieg und nach Krieg kommt noch mehr Krieg. „Wir“ rüsten verbal immer mehr auf, argumentieren aus – noch – geschützten Schreibstuben die Ukraine immer weiter in einen aussichtslosen Krieg und rüsten sie dafür auf. Russland hat noch nicht einmal die Generalmobilmachung ausgerufen und wird nicht zögern, Atomwaffen gegen die Ukraine einzusetzen, wenn es das Gefühl hat, in die Enge getrieben zu werden. Begründen würde der Russe das mit Hiroshima und Nagasaki. Der Ami hat da ja auch Atomwaffen eingesetzt, um schlimmeres, noch mehr Blutvergießen, zu verhindern. Wenn der Satz gilt: „Wer den Frieden will, muss für den Krieg gerüstet sein“, dann gilt innerhalb dieses Logik-Konstruktes auch der Satz „Wer den Krieg beenden will, muss für das größte (Atom)Übel gerüstet sein“.
Mittlerweile ist die Blutgeschichte von Putins Herrschaft von Tschetschenien bis Syrien ja genug bekannt und über seine Verfassung können keine Illusionen mehr herrschen. Wie kann man da glauben, dass ginge irgendwie gut aus für die Ukraine? Es kann nur noch darum gehen, so viel Tod wie möglich zu vermeiden.
Aber wie oft und immer intensiver, so hoffe ich auch hier, unrecht zu haben. Und dass meine Exitstrategie überflüssig ist: Ein Häuschen weitab vom Fallout, im Alentejo, mieten, je einen Beutel Hanf- und Kartoffelsamen einpacken, ein paar Silbermünzen, Hölderlin Gedichte und ein zweites Smartphone. Der Ire hat sich im 19. Jahrhundert bis zur Kartoffelfäule fast ausschließlich von Kartoffeln ernährt. Geht also. Mit dem Gras treibe ich Handel, Wein kaufen und so, Hölderlin spendet Trost. Guter Plan. Oder sollte ich für den atomaren Ernstfall doch dem Motto frönen: Lieber schnell verdampfen in Berlin als langsam verrotten auf dem Acker?
Ich halte Sie auf dem Laufenden, liebe Leserinnen.

26.04.2022 – 70 Prozent Rabatt


70 Prozent Rabatt bei Kaufhof. Mein nachösterliches Paradies. Ginge es gerecht auf der Welt zu, müsste ich auf Grund meines Süßigkeiten-Konsums so rund sein, dass ich zum Bahnhofe gerollt werden kann. Göttinseidank geht es aber nicht gerecht zu und ich passe nach wie vor in meinen Kommunionsanzug. Fast.
Kaufhäuser in den Innenstädten erinnern mich an gestrandete Wale, unförmig liegen sie da, unfähig sich zu retten, fast meint man, ihr verendendes Stöhnen zu hören. Mit ihnen geht eine glorreiche Ära eines massenhaften Konsums zu Ende, der einherging mit analoger Begegnung, ergo Ausweitung von Öffentlichkeit und damit auch Demokratie. Ein Erlebnis und Fest für Flaneure nach wie vor sind Kathedralen des Konsums wie das KaDeWe oder die Galeries Lafayette in Berlin. Letzter Glanz und Aufbäumen einer faszinierenden Epoche. Jetzt haben wir Amazon.
Im Kaufhof war es öd und leer, riesige Tische und Ständer voll mit österlich Übriggebliebenem zu 70 Prozent Rabatt zeugen von einer gigantischen Einkaufsfehlkalkulation. Nächste Woche bin ich wieder da, vielleicht gibt es dann 90 Prozent.
Ostern, Fest des Friedens und der Hoffnung, wurde von orthodoxen Paffen, die immer so aussehen, als wollten sie zur nächsten Tuntenparade, genutzt zur chauvinistischen Kriegshetze. Begründet wird dieser blutrünstige Geifer mit den üblichen antizivilisatorischen Hassgesängen gegen die Dekadenz westlicher Moderne, Beispiel: Schwulenparaden. Haben die Pfaffen keinen Spiegel Zuhause? Um zu verhindern, dass Schwulenparaden oder gar Genderwahn bei Mütterchen Russland stattfindet, muss in den Augen dieser Geistestalibane das Blut tausender Unschuldiger fließen. Purer Faschismus.
Langsam kam nach Ostern auch die hiesige Bürgerpresse auf den Trichter, die Ursache für die flächendeckende Unterstützung im eigenen Land der russischen Aggression auch da zu suchen, wo sie mit herkommt, nämlich aus der Tiefe dieses religiösen Wahns, und schmähte den russischen Oberpopen Kyrill als nicht Ökumene fähige Schande. Nun ist das dem Weltbürger eher Wumpe, ob eine Krähe der anderen und ein Kardinal dem Popen (im Peter Hacks-Original: Mullah) kein Auge aushackt.
Ärgerlich nur, dass diese Kritik, wie alle bürgerliche, zu kurz springt. Subsummiert sie doch andere orthodoxe Aberglaubensfraktionen in anderen Nationen, die dem russisch-völkischen Wahn nicht folgten, eher unter die Guten. Das verkennt nun völlig die Struktur dieser byzantinischen Bizzarerie. Die ist von Grund auf irrational, antimodern und völkisch. Und so werden in jeder von der Orthodoxie verseuchten Nation die eigenen Waffen gesegnet, der Feind aus der anderen Nation verteufelt, grundsätzlich alle Schwulen und Frauen verachtet und gehasst.
Nur weil der Russe jetzt zu Recht ein von allen geächteter Gegner ist, wird der Rest in Osteuropa doch nicht zur Lichtgestalt.
Ich frage mich immer öfter, ob ich in einem Irrenhaus bin. Kein Wunder, dass es mich auf die Pfade der Flaneure treibt, dem flüchtigen Vergessen entgegen. Brüder und Schwestern, zur Sonne, zur Freiheit? Von wegen.
Auf ins Lafayette.

23.04.2022 – Supermärkte besuchen


Der erste Blick in den Garten nach der Rückkehr aus Berlin. Birnenblüte. So trostlos kann die Lage zumindest in unseren Breiten gar nicht sein, dass nicht der Anblick von frischer Blüte einen Hauch heiterer Hoffnung ins Herz senken würde. Die Seele atmet auf. Wobei wir Seele mal als die Summe all dessen nehmen wollen, was wir nicht mit dem Verstand fassen, und nicht als göttliches Geschenk an einen unbeseelten Klumpen Lehm. Nur schwer mit dem Verstand fassen kann ich die Tatsache, dass sich bis dato noch nichts auf der Straße rührt gegen Verarmungstendenzen bis in die Mitte der Gesellschaft. Für Wahnhaftes nehmen Zehntausende ihr Recht auf Demonstration wahr, an was die verschwörungstheoretische Corona-Schwurblerszene so alles glaubt, das glaubt man als Verstand-Besitzer gar nicht und wurde hier schon so oft beschrieben, dass ich mir Aufzählungen schenke.
Für handfeste ökonomische Überlebens-Interessen aber, das im wahren Sinne tägliche Brot, rührt sich auf der Straße nix.
Dass wissenschaftsfeindlicher Irrationalismus, also der Glaube, Impfungen schadeten, Corona sei sowas wie ne Grippe und Masken kein Schutz, sondern ein staatlich aufgepresstes Repressionsinstrument, eine postmoderne Form von Religiosität geworden ist, ist mir schon klar. Aber früher waren solche Verrücktheiten was für die stille Betkammer und nicht für die Öffentlichkeit, die Straße, fast im Sinn einer sozialen Bewegung.
Wie klein sind die Menschen doch gemacht worden, wie entsolidarisiert, dass sie nicht völlig berechtigterweise kollektiv Supermärkte wie Lidl oder Aldi besuchen und sich gemeinsam das nehmen (natürlich gegen Hinterlegung eines Obolus, je nach Bedürfnis ud Möglichkeit), was ihnen zunehmend fehlt: Das tägliche Essen. Und dann vor die Staatskanzleien, Bankenhäuser und Konzernzentralen ziehen und dort ihrem Unmut Luft machen.
Ein kluger Kopf hat gestern im NDR verlautbart: „Gleichzeitig sei es ein Skandal, dass in einem der reichsten Länder Welt darüber diskutiert werden müsse, wie sich Millionen Menschen ausreichend ernähren könnten.“ Geneigte Leserinnen werden es ahnen, um wen es sich dabei handelt…
Tränen gelacht habe ich bei der Formulierung in der Mitteilung: LAK-Chef. Und sie nannten ihn: Chef. Dass ich das noch erleben durfte…
Weniger geneigte Leserinnen werden bei dem bis hier Geschriebenen denken: Was stimmt mit dem, also mir, nicht?! Ähnliches habe ich allerdings auch gedacht, als ich mein Ergebnis der Wahl-O-Mat Auswertung für die NRW-Wahl las. Meine Wahlpräferenz laut Wahl-O-Mat. in der Reihenfolge: Tierschutzpartei, Die Partei, DKP, Die Urbane, MLPD, ÖDP, Die Linke.
Das fand ich doch irgendwie verstörend. Nur die Letzen in der Reihenfolge beruhigten mich wieder etwas: Die Basis, Team Hodentöter, Zentrum, FDP, AfD.
In Bochum findet heute eine Mieter*innen-Demo statt. Ein Hoffnungsschimmer. Ich versuche zur Zeit, in meinen Zusammenhängen für eine Demo zu werben (früher sagte man: mobilisieren) gegen wachsende Verarmung. Das wird nach Lage der Dinge ohne Gewerkschaften und Verbände nicht wirkungsvoll realisierbar sein. Dagegen dürfte Sisyphos‘ Job ein Strandspaziergang sein.
Apropos Strand ….

21.04.2022 – Leistungswasser


taz, 19.04.2022.
Mittlerweile ist Armut sogar ein Thema im Organ der höheren Stände, der HAZ. Kein Wunder, macht sich doch langsam auch Panik in ihrer Klientel breit, der ehrenwerten Mitte der Gesellschaft. Die nächste Rezession klopft mit kalten Fingern auch an die bisher gut gesicherten Türen ihrer Jobs, die Inflation frisst die Ersparnisse auf, Altersarmut am Horizont, selbst wohlsituierte Doppelverdienende finden in Ballungsräumen keinen bezahlbaren Wohnraum. Positiv daran: Endlich wieder im letzten Jahr Geburtenrückgang in Deutschland, das erste Mal seit vielen Jahren. In Spanien übrigens um 20 Prozent, in Frankreich um 13,5 Prozent. Wenn man bedenkt, wie sehr jeder Insasse der hiesigen Regionen die Umwelt verpestet, eine Hoffnung machende Entwicklung.
Ein Beispiel, wie sehr die Reproduktionsrate von sozialen Bedingungen und ökonomischen Umständen abhängt, ist die ehemalige Ostzone. Hier brach innerhalb kürzester Zeit die Geburtenrate von 1,9 Kindern pro Frau 1980 auf sagenhafte 0,75 Anfang der 90er ein.
Die Einführung des Kapitalismus in der Ostzone hatte auf einen Schlag die Verhältnisse zur Aufzucht von Brut desaströs katastrophisiert. Kinder wurden zum Lebensrisiko. Das Sein bestimmt eben nicht nur das Bewusstsein, sondern vor allem das Verhalten. Insofern hat jeder noch so berechtigte feministische Aufruf zum Gebärstreik nie etwas bewirkt, das waren reine Kopfgeburten.
Eine Geburten-Entwicklung, wie es sie vorher nur zur flächendeckenden Verbreitung relativ einfacher Verhütung via Pille gab.
Und nun ham wa wieder mal nen großen Kladderadatsch. Was tun? Interessant ist, was nicht breit diskutiert wird: Die Beteiligung von Superreichen an einer gerechten Finanzierung unseres Gemeinwesens mittels Vermögensabgabe, siehe taz oben. Das ist bezeichnend für den Strukturwandel unserer Öffentlichkeit in den letzten, neoliberalen Jahrzehnten: Den armen Schweinen gönnt man nichts, eine substantielle Erhöhung der Hartz-IV-Sätze wird nur von einer Minderheit der Bevölkerung unterstützt, aber das Goldene Kalb, der Fetisch Reichtum, die Sehnsuchtsprojektion so vieler aus der Mitte, bleibt undiskutiert unangetastet. Nach unten treten, nach oben buckeln. Das ist der ideelle Gesamtdoitsche und falls das Sinken der Geburtenratte und die drohende Überalterung erste Indizien für ein Aussterben dieser Spezies sind, so wollen wir gerne in all der tagesaktuellen Krisen-Düsternis einstimmen mit dem Dichtergott Friedrich Hölderlin in die frohe Ode an die Zukunft:
Wo aber Gefahr ist
Wächst das Rettende auch.
Als Rausschmeißer für heute was zum Schmunzeln und durchaus passend zum bisher Ausgeführten über das neoliberale Gift, was sich selbst in die Köpfe Resilienter gefressen hat, ein Versprecher, der mir unlängst unterlief: Statt Leitungswasser „Leistungswasser“.

19.04.2022 – Das Goldene Zeitalter


Diese Plakatinstallation in meiner Berliner Hood Yorkstr. weist zu Recht darauf hin, dass Krieg ein globales Problem ist. Allein im Syrienkrieg bisher 350.000 Tote, in Afghanistan seit 2001 fast 70.000 Tote. In Kurdistan seit 1984 über 45.000 Tote, die Opferzahlen steigen weltweit in zahlreichen Konflikten seit 2010, während das Demokratiemodell westlicher Prägung auf dem Rückzug ist. Es wird in immer weniger Staaten praktiziert. Dort, wo es noch praktiziert wird, ist es zunehmend ausgehöhlt, siehe USA, Türkei, Osteuropa, etc. pp, und wird durch wachsenden Nationalchauvinismus ersetzt. Der Ukrainekrieg, der das alles zurzeit überdeckt, ist ein klassischer nationalistischer Konflikt. Natürlich gibt es einen eindeutigen Aggressor, Putin, und der Überfall ist durch nichts zu entschuldigen. Allerdings hat sich die Ukraine immer nahtlos eingereiht in die Riege jener osteuropäischer Staaten, die, gemessen am westlichen Demokratieverständnis, als gescheiterte Experimente zu betrachten sind, bezieht man sich auf die Hoffnungen von 1989 ff.
Im Index der menschlichen Entwicklung auf Platz 74, im Demokratieindex auf 86 wird die Ukraine geführt als Hybridregime. Das sind Staaten mit regelmäßigen Wahlbetrügereien, die verhindern, dass sie faire und freie Demokratien sind. Es gibt keine unabhängigen Justizbehörden, weit verbreitete Korruption, kurz: fehlerhafte Demokratien im Bereich einer unterentwickelten politischen Kultur auf niedrigem Niveau der Beteiligung an der Politik und Fragen der Funktionsweise der Regierungsführung. Natürlich rechtfertigt das keinen Überfall, aber die gehäufte Existenz von derartig verfassten, meist ultranationalistischen Staatswesen ist wachsender Konfliktsprengstoff.
Es gibt weltweit mittlerweile nur noch 20 vollständige Demokratien, Deutschland gehört dazu, mit absteigender Tendenz. Die USA nicht mehr.
Wenn „wir“, also die Nato, schwere Waffen in die Ukraine liefern, kann sich eine Situation wie in Syrien oder Afghanistan daraus entwickeln, ein schier endloser (Guerilla-)Krieg, also nicht tausende Tote, sondern Hunderttausende, oder, rechnet man die Kriegsfolge-Toten mit ein, die an Hunger oder Seuchen sterben, Millionen.
In den 70ern des vorigen Jahrhunderts kulminierte sozialer und ökonomischer Fortschritt für breite Schichten in westlichen Demokratien in bis dahin ungekanntem Ausmaß, das sogenannte „Goldene Zeitalter des Kapitalismus“. Vielleicht reden wir in einigen Jahren, in einer Krisen bedingten Rückschau, von den Jahren 1950 bis 2010 grundsätzlich vom „Goldenen Zeitalter“, in dem Kriege als Mittel der Politik auf dem Rückzug waren, globale Armut ebenso und Krisen als grundsätzlich beherrschbar galten, die eher eine Frage von Kooperation und Management als eine der grundsätzlichen Überforderung waren. Seither: Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Pandemie, Kriege, Ausweitung von Armut und Spaltung der Gesellschaft, Inflation, Demokratieverlust, alles sich gegenseitig beschleunigend. So gesehen, hab ich echt Schwein gehabt, im „Goldenen Zeitalter“ groß und alt geworden zu sein.
Das Plakat der Cooperatives for peace oben hängt übrigens an einem Neubaukomplex, mit einem schicken Hotel, einer von Frauen geführten Co-working Fläche namens „Yorck Share -Zentrum für Lebenskompetenz“ und einem LPG Biomarkt.
Merkmale und Treiber von Gentrifizierung, die auf noch vorhandene bezahlbare Mieten extremen Verdrängungsdruck ausüben.

16.04.2022 – Toleranz üben und Brüche aushalten


Die Dame dürfte jenseits der 80 gewesen sein. Souveräne Eigensinnigkeit und Stil, ein erfreulicher Anblick. Sieht man von der Töle am anderen Ende der Stilikone ab, eine von über Hunderttausend, die Berlin jeden Tag mit Tonnen von Hundescheiße zupflastern. Gesehen im Ludwigkirchplatz Kiez. Stuckreiche, große Altbauten, gepflegte Plätze und Grünanlagen, exklusive Geschäfte, Galerien, Restaurants – Wilmersdorf at its best. Ein Fest für jeden Flaneur. Allenthalben reden die Menschen in fremden Zungen, Englisch, Spanisch. Die Einkommen dürften beträchtlich über dem Berliner Median liegen. Hier lebt sich’s gut. Wenn man genügend Geld hat.
Die Fahrt von hier zur U-Bahnstation Boddinstr. in Neukölln dauert keine halbe Stunde. Es ist eine Weltreise, in einen vollkommen anderen Kosmos. Auf einer Bank in der U-Bahnstation ein Drogensüchtiger, halb liegend, halb sitzend, dem Tod näher als dem Leben, und zieht sich den Stoff, Crack, Meth, Heroin, was auch immer, mit einem Röllchen aus Aluminiumpapier in die Lunge. Die Hände dunkel vor Dreck, man meint das Elend riechen zu können. Was in Wilmersdorf einen sofortigen Polizeieinsatz zur Folge hätte, nimmt hier niemand wahr.
Oben, auf der Flughafenstr., reden die Menschen in fremden Zungen, Türkisch, Arabisch. Die Einkommen dürften beträchtlich unter dem Berliner Median liegen. Die hier dominante Machismo-Kultur geht mir gewaltig auf den Sack, dauernd brettert irgendein Migrationsvollpfosten mit quietschenden Reifen und heulenden Motoren von PS-Monstern durch die Gegend. Haben die alle so kleine Schwänze? Schlimmer noch: Unmengen verschleierter Frauen und das Tragen einer Kippa oder offene Ausleben einer in Schönberg selbstverständlichen queeren Kultur ist hier lebensgefährlich. Mitunter habe ich schon den Impuls: Alle ab nach Syrien, zum Minenräumen. Bevor ich mich zivilisiere und mir ins Bewusstsein rufe, dass ja nicht alle so sind, und es zu einer offenen Gesellschaft gehört, Brüche auszuhalten. Die Grenzen zieht das Strafrecht. Wer also mit Antisemitimus, Frauenverachtung und Hass auf Queere gegen das Gesetz verstößt, die S-Bahnen 9 und 45 fahren zum BER-Flughafen, wo jede Menge Flieger bereit stehen ….
Aber trotz allem, oder gerade deswegen, fühle ich mich hier wohl. Ein Fest für Flaneure. Garniert mit einem kräftigen Spritzer voyeurhaftem Grusel. Neukölln in dieser Gegend wird mir immer fremd bleiben, im Gegensatz zur Szenegegend am Tempelhofer Feld. Die ich aber auch nicht besonders leiden kann, u. a. wg. asozialer Ablehnung der Teilbebauung des Tempelhofer Feldes.
Das Fremde auszuhalten, und das, was man nicht leiden kann, trotzdem schätzen zu lernen, dafür ist Berlin gut. Und was eine Vorspeise in Wilmersdorf kostet, dafür gibt’s in Neukölln ein komplettes Essen inklusive Alkoholika. Sollte allerdings eine selbsternannte Scharia Polizei in Neukölln auf die Idee kommen, gegen Alkoholkonsum vorzugehen, wäre meine Toleranz beendet. Dann aber wirklich ab in den Flieger.
Fassen wir zusammen: Toleranz üben und Brüche aushalten. Es werden allerdings immer mehr Brüche und sie werden immer tiefer. Rohe Eiertage, liebe Leserinnen.

15.04.2022 – Der Bus-Flaneur


Die letzte Kremlfahne. Am Checkpoint Charlie, einem der größten Touri-Nepp-Orte in Berlin, wo täglich zig Leute in wohligem Grusel ob der Erinnerung an den Kalten Krieg vor einem nachgebauten Kontrollpunkt mit Imitat-Soldaten posieren. Fotografiert vom M29er Bus aus. Wahrscheinlich hängen weltweit Tausende letzte Kremlfahnen, siehe auch „Original-Mauerstücke“. Stadtrundfahrten in Berlin für teures Geld können Sie sich sparen, liebe Leserinnen. Tagesticket für 8,80 Euro und – vor allem bei schlechtem Wetter und müden Füßen – den ganzen Tag die M29er Strecke durch Kreuzberg und Neukölln juckeln.

Was vor allem bei Dunkelheit mit all den Neonleuchtenden Kneipen, Bars und Restaurants ein ziemlich zauberhafter Anblick ist.
War der klassische Flaneur auf den Spuren Walter Benjamins und anderen noch per pedes unterwegs, bietet sich für die postmoderne Variante auch das ziellose Treibenlassen mit Rad oder Bussen an. Radln ist allerdings in Berlin grundsätzlich ein gefährliches Unterfangen und nur höchstkonzentriert und behelmt anzugehen. Da empfiehlt sich das Treibenlassen eher in ausgesuchten Kiezen und Nebenstraßen, was also qua Plan dem Flaneur-Gedanken eher widerspricht.
Ich bin dazu übergegangen, Bus-Flaneur zu werden. Einfach ziellos von einer Linie zu anderen zu hoppen und wenn es mir irgendwo gefällt, auszusteigen und das Terrain als klassischer Fuß-Flaneur zu erkunden. Wobei „erkunden“ dem Flaniergedanken auch schon widerspricht. Vielleicht bin ich, sind wir?, schon grundsätzlich zu sehr Effizienz- und Erkenntnisverdorben. Alles muss ein Ziel, einen Sinn, eine Erkenntnis haben, verwertbar sein. Selbst bei einigermaßen resistenten und renitenten Gemütern wie mir ist diese neoliberale Ideologie auch im Nichterwerbsbereich schon wie ein Gift in alle Zellen nicht nur der Wahrnehmung gesickert. Beim Strandliegen gelingt mir eine kontemplative Abwesenheit solchen Gedankenschrotts noch am ehesten, ein Buch zur Hand zu nehmen käme mir da nie in den Sinn. Was für eine extreme Vergeudung an Nutzlosigkeit wäre das. Wandern ist auch ok. Beim Wandern sind mir mitunter Gedanken fern. Aber leider nicht der Gedanke, wie gesund das jetzt ist, wie sinnvoll, welche Strecke ich da gerade wieder zurücklege. Und im schlimmsten Fall welche Freude mich durchströmt, wenn ich etwa ein keuchendes Etwas vor mir an einer steilen Steigung in brüllender Sonne „abkoche“. Fehlt nur noch Schrittzähler und Stoppuhr. Grausam.
Busflanieren hingegen kann durchaus etwas wie eine Meditation sein in gelungenen Momenten, weil man sich nicht aufs Gehen konzentrieren muss. Freies Fluten. Am intensivsten habe ich das bei Busfahrten durch das innere Alentejo erlebt, stundenlang gleiten da in flacher unbedeutender Landschaft im ständigen, trägen Wechsel Rinder, Oliven, Mandelbäume, Felder an einem vorbei, visuelle Mantren.
Ähnliches nun im Moloch Berlin erleben zu können, hat was Faszinierendes. Und Entlastendes, da die Gedanken an die tausend Krisen draußen vor der Bustür endlich mal Urlaub haben.
Bis, wie geschehen, ein Rundfunksender anruft und gerne ein paar O-Töne zur Auswirkung der Inflation auf Menschen mit wenig Geld hätte.

12.04.2022 – Was ist schon normal?


Hagelschauer letzte Woche. Blieb Zentimeterhoch auf der Veranda liegen. So glatt, dass ich mich beinahe auf die Schnauze gelegt hätte. In dem Fall geht das als früher normales Aprilwetter durch, aber ansonsten ähnelt das Wetter der Gesellschaft: Geht immer mehr aus den Fugen. Gestern Abend Essen mit Kolleg*innen in der City. Analog, live, das erste Mal seit …? Wie sehr gerade die dienstliche Gesprächskultur eine andere ist, wenn man sich live gegenübersitzt, realisiert man erst, wenn man es erfährt. Sofort stand der Wunsch im Raum (was von der Visualisierung her schön ist) nach einem Folgetermin.
Draußen eine Demo. Früher konnte ich von weitem auf den ersten Blick erkennen, was für eine Ausrichtung eine Demo hat. Gestern fiel es mir schwer, eine bunte Peacefahne lockte mich auf die falsche Fährte. Danach eine Deutschlandfahne. Den Rest Klarheit gab mir der flatternde Schmierlappen der sogenannten „Freien Linken“, eine Ansammlung von vorgeblich linken Coronaschwurblerinnen, nicht ganz so schräg wie die Antisemiten-Gang von „Die Basis“, aber auch eher ein Fall für die Couch als für die Öffentlichkeit. Es war Montag und die medikamentös falsch Eingestellten hatten wieder Ausgang. Montagsdemos, auf ewig kontaminiert mit Nazideologie, was die Impfdeppen aber offensichtlich nicht stört, sondern sogar befeuert.
Natürlich ging unsere Diskussion bei Scallopine al limone dann auch um den Umgang mit solchen Zeitgenossinnen. Mein Vorschlag war nicht mehrheitsfähig: Von der Straße kärchern. Allgemeiner Therapeutenkonsens der mehrheitlich Sozialwissenschaften studiert Habenden und im Besitz diverser Moderations- und Mediationsausbildungen Seienden: Bei Diskussionen Coronaleugnerinnen nicht in die Ecke drängen, ihnen Raum lassen, Argumente sacken lassen.
So die Sozialarbeiter-Richtung früher: Nazis Räume zur Verfügung stellen und sie da abholen, wo sie sind.
Aus den Sozialarbeiterräumen in Jugendzentren für jugendliche Nazis (in Brennpunkten) sind mittlerweile national befreite Zonen, vorwiegend in der Ostzone aber nicht nur da, geworden. Mit Nazis führt man keine Diskurse, sie sind mit allen Mitteln der gesellschaftlichen Ächtung und staatlichen Repressionen zu bekämpfen. Und wer nach über zwei Jahren Argumenten und wissenschaftlichen Erkenntnissen (es gibt kaum eine Krankheit und Seuche, die besser erforscht ist inklusive der Impfstoffe als Corona), immer noch Impfverweigerer ist, der hat eine bewusste, nicht zu revidierende Entscheidung getroffen. Eine Entscheidung, die Menschen in Altersheimen und Angehörigen von vulnerablen Gruppen das Leben kostet. Allein in Niedersachsen laufen noch fast 15.000 Menschen, die in der Gesundheitsbranche arbeiten, ungeimpft rum. Tickende Zeitbomben.
Welche Räume soll man solchen Leuten lassen?
Es gibt kaum Schöneres als Kolleginnen, Freunde, Kumpels, was auch immer, live zu treffen, der Abend war ein ganz feiner und ich freue mich schon auf das gemeinsame Grillen bei mir im Garten. Aber eins hab ich gestern wieder gemerkt: Ich bin kein Sozialarbeiter, war keiner und werde auch keiner mehr werden. Normal? Bin ich noch normal?
Ich hoffe nicht.

09.04.2022 – Den Blick weiten


Panoramafoto. Bucht von Porto Soller. Ein Panoramafoto weitet den Blick, wirkt aber oft auch verzerrt. Ich halte den Panoramablick für eine Möglichkeit zur Schulung der Wahrnehmung. Ästhetische Prinzipien lassen sich durchaus in den Alltag transferieren, oft sind sie grundsätzlicher Natur. Bei künstlerischer Gestaltung oder Wahrnehmung lassen wir uns unbewusst von Naturgesetzähnlichen Regeln leiten, wie dem Goldenen Schnitt.
Eine Leistung von zeitgenössischer Kunst kann sein, klassische Regeln der Harmonie zu durchbrechen und so unsere Wahrnehmung und Kritikfähigkeit zu schärfen, den Blick zu weiten. Was auch im Alltag nützlich sein kann. Das kann dann der Moment sein, wo ästhetische in politische Bildung umschlägt.
Weiten wir mal unseren Blick, was das Tagesgeschehen angeht. Allenthalben Solidarität mit den ukrainischen Flüchtlingen und Abscheu gegenüber den russischen Aggressoren. Völlig zu Recht. Ohne Wenn und Aber und das geht nicht nur gegen Putin, sondern gegen die Killersoldateska, die in der Ukraine Massenmorde begeht. Dafür trägt jeder einzelne beteiligte Soldat die Verantwortung und gehört vor einen internationalen Gerichtshof. Und die Abscheu gilt auch jenen über 80 Prozent der Russen, die den Krieg befürworten, und jenen Russlanddeutschen, die hier mit bescheuerten Autokorsos die Öffentlichkeit verpesten. Auf die Anwesenheit solcher „Volksgenossen“ kann ich gerne verzichten.
Blick weiten: Ukrainische Flüchtlinge erhalten ab Juni Hartz-IV und damit vollen Zugang zur Arbeitsmarktintegration. Zu Recht.
Flüchtlinge aus anderen Ländern, „Kulturkreisen“, wie Syrien und Afghanistan, erhalten das nicht, obwohl die Notlagen vergleichbar sind. Sie unterliegen dem Asylbewerberleistungsgesetz, mit zahlreichen Einschränkungen.
Das ist eurozentrischer Rassismus. Jener Kitt, der die Mauern um Europa zusammenhält, an denen jährlich Tausende sterben, bei dem Versuch, sie zu überwinden. Jedes Jahr ein Vielfaches der Toten, die während der gesamten Existenz des „Eisernen Vorhangs“ von 1948 bis 1989 ihr Leben ließen, beim Versuch in die Freiheit zu fliehen.
Es ist jetzt schon abzusehen, dass sich Migrationsbewegungen verstärken werden: Armut und Hunger nehmen weltweit wieder zu, Klimakatastrophe, Kriege, failed States, Inflation, Rezession, Corona und andere Seuchen, der Ursachen werden nicht weniger. Und es braucht nur wenig Phantasie, sich vorzustellen, wer hierzulande von diesem Problem des Migrationsdrucks profitieren wird, wenn sich bei uns die Krisen verschärfen. Die nächste Rezession (und Seuche) kommt, so sicher wie der Apfel nach unten fällt. Für die Prognose braucht es noch nicht mal den Panoramablick.
Die Funktion hat Ihr Handy, liebe Leserinnen, auch. Irgendwo in Ihrer Kamera wird Ihnen die Option „Mehr“ angeboten, da isses dann. Für Wanderungen bei Weitsicht, auf Aussichtsplattformen ein nettes Spielzeug. Aber nicht nur das. Sonniges Wochenende